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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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hinter denen Flüsse, Quellen und sprudelnde Bäche warten, Früchte und Wein, alles tausendfach schmackhafter als auf Erden. Sahra, eingehüllt in ihren leichentuchähnlichen Dschilbab, glaubt wie mein Vater fest daran, dass das Leid, das sie in diesem Leben erträgt, im Jenseits reich belohnt werden wird. Ihre Tochter wird womöglich auf Erden dafür büßen. Ich hoffe nur, sie wird – wie ich – ein kleines Fluchtfenster finden.

Kapitel drei
MEINE MUTTER
    Mein Vater starb eine Woche, nachdem ich ihn im Krankenhaus besucht hatte. Kurz vor seinem Tod war er wieder ins Koma gefallen. Die Maschinen hielten ihn am Leben, bis die Ärzte sie abschalteten. Obwohl ich wusste, dass es so kommen würde, erfüllte mich ein Schmerz von urgewaltiger Intensität.
    Dem Begräbnis musste ich fernbleiben. Den ganzen Tag lang malte ich mir aus, was sich in seiner Wohnung in Tower Hamlets gerade abspielte, sah die Frauen aus dem Clan vor mir, die, auf dem Boden sitzend, Tee tranken, Geschichten erzählten, wehklagten, einander trösteten und darauf warteten, dass die Männer vom Friedhof heimkehrten, wo sie Vater begraben hatten.
    Ich verbrachte den Tag in meiner Wohnung in den USA und ließ meinem Putzfimmel freien Lauf, um auf andere Gedanken zu kommen.
    Ich hätte meinen Vater schon viel früher besuchen können. Es war meine freie Entscheidung gewesen. Ich hätte die Reise nach Brasilien oder Australien streichen und schon nach dem ersten Telefonat im Juni nach London fliegen können. Obwohl ich meine Auftritte mit Leichtigkeit hätte absagen können, hatte ich ihn nicht besucht. Ich hatte mir die Zeit nicht genommen, weil ich mich nicht mehr an die Pflichten gegenüber meinem Vater gebunden fühlte, mein Zugehörigkeitsgefühl nicht mehr den Gerüchen Somalias und Nairobis galt, sondern einer neuen Sippe.
    Meine Entscheidung war egoistisch gewesen. Sie hing damit zusammen, dass ich an den Händen abzählen konnte, wie oft ich mit meinem Vater gesprochen hatte, seit ich sechzehn Jahre zuvor weggegangen war. Diese wenigen Gespräche waren alle gleich verlaufen: Er hatte mir eine Predigt gehalten, die nicht nur monoton, sondern geradezu erschreckend war.
    Auch nachdem ich vor meinem Vater und seinen Plänen geflohen war, hatte ich noch zu ihm aufgesehen. Er war eine Führergestalt, hatte sich gegen das Unrecht und die Tyrannei in Somalia aufgelehnt, wollte seiner Familie, seinem Stamm, seiner Nation zu einem demokratischen, modernen Regierungssystem verhelfen.
    Die ersten Risse erhielt dieses Bild im Jahr 2000. Damals traf ich mich in Deutschland mit ihm, wo er sich einer Augenoperation unterzog. Es war nach acht Jahren Exil unsere erste Begegnung. Ich studierte noch an der Universität Leiden und war voller Ideen. Ich sehnte mich danach, ihn wiederzusehen, und fürchtete mich gleichzeitig davor, was er sagen würde. Doch als mein Vater auf islamisches Recht zu sprechen kam, verschlug es mir fast die Sprache. Die Argumente kamen mir schwach, ja, albern vor – aber das war doch mein Vater. Da er in meinen Augen noch immer ein brillanter Denker und Führer war, unbesiegbar und stark, suchte ich nach Entschuldigungen – er war doch eigentlich ganz anders. Aber nach dieser Begegnung nahm jedes Gespräch den gleichen Verlauf, und sogar bei unserem letzten Telefonat vor meiner Brasilienreise musste ich gegen meine Enttäuschung über die Widersprüchlichkeit und Irrationalität seiner Vorstellungen und Überzeugungen ankämpfen.
    So, wie ich meine Identität verschleiert hatte, als ich in Holland um Asyl bat, hatte auch mein Vater die Behörden belogen, um in Großbritannien leben zu können. Der Stammesheld, der Bewahrer des Islam und der Clankultur, nahm unter Vorspiegelung falscher Tatsachen von den Ungläubigen Almosen an, obwohl er – anders als ich – für ihre Werte und ihre Lebensart nichts als Verachtung übrighatte. Vor seinem Tod hatte er sogar die britische Staatsangehörigkeit beantragt und bekommen – nicht, weil er britischer Bürger werden wollte, sondern weil er damit in den Genuss einer Sozialwohnung und einer Krankenversicherung kam. Mir predigte er weiter, ich dürfe einem säkularen Staat gegenüber nie loyal sein und müsse zum wahren Glauben zurückkehren. Hätte ich eine Woche mit ihm verbracht, so hätte er mir eine Woche lang einen Vortrag gehalten. Er hätte mich beschworen, zur Familie zurückzugehen, zu seinen Frauen und Töchtern, von denen einige mich wohl lieber tot sehen würden und in deren Augen

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