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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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unerträglichen Widerspruch zwischen der Welt, die man uns zu sehen lehrt, und der Welt, in der wir tatsächlich leben.
    In meinen Gesprächen mit Magool nach dem Tod meines Vaters kam mir der Gedanke, dass Abeh mich auf dem Sterbebett vielleicht hatte bitten wollen, mich um seine Frauen zu kümmern: seine erste Frau, die inzwischen in Whitechapel lebte, seine zweite, meine Mutter, in Somalia, seine dritte Frau, Sahras Mutter, und seine vierte, die er nach Sahras Geburt in Somalia geheiratet hatte, die aber kinderlos blieb – ich hatte fast vergessen, dass es sie überhaupt gab.
    Als er noch lebte, hatte ich mir jeden Gedanken daran verboten, doch nun holte ich das nach. Mein Vater hatte so vielen Menschen wehgetan, indem er eine neue Frau geheiratet, Kinder gezeugt und sie dann mehr oder weniger unversorgt zurückgelassen hatte. Wenn ich ihn nach meinen neuen, westlichen Maßstäben beurteilte, stellte ich fest, dass er seinen Pflichten gegenüber seinen Frauen und Kindern nicht nachgekommen war.
    Ich habe meinen Vater deswegen nie verurteilt, war nie wütend auf ihn. Aber wenn ich vor seinem Tod noch ein aufrichtiges Gespräch mit ihm hätte führen wollen, hätte ich wohl erst eine emotionale Kammer öffnen müssen, die ich fest verschlossen hatte. Nun, da er tot war, verachtete ich mich selbst und bedauerte zutiefst, dass wir nicht anders miteinander umgegangen waren.

    In den Wochen nach Vaters Tod kamen Magool und ich uns näher. Meine Cousine war zu einer klugen, unabhängigen jungen Frau herangewachsen, einem Freigeist, zäh und nüchtern, aber dennoch leidenschaftlich. Und nun stellte sie plötzlich eine wertvolle Verbindung zu meiner Familie dar. Magool hatte Anfang der Neunzigerjahre über ein halbes Jahr in den Niederlanden bei mir gewohnt. Anders als meine Halbschwester Sahra machte sie sich die westlichen Werte zu eigen, wonach der Einzelne in Fragen des Lebens, der Liebe und der Familie die volle Verantwortung trägt. Magool versuchte nie, mich wieder zum Islam zu bekehren. Da ihr Umfeld sie hatte bekehren wollen, wusste sie, wie unangenehm das war. Sie war darüber hinaus meine Verbindung zur somalischen Blutlinie, zu der ich, ob es mir nun gefiel oder nicht, noch immer gehörte.
    Eines Tages erkundigte ich mich bei Magool nach meiner Mutter. Sie erzählte mir eine Geschichte, die mich überraschte und freute.
    In all den Jahren, seit mein Vater meine Mutter in Kenia mit drei Kindern zurückgelassen hatte, hatte Ma nicht mehr als ein oder zwei Worte mit ihm gesprochen. Ihr stummer, furchtbarer Zorn hatte schon zwischen ihnen gestanden, bevor er uns verließ. Ihr Schweigen erfüllte unser Haus an der Park Road in Nairobi, bis er es nicht mehr aushielt. Ich weiß noch, dass sie nach seiner Rückkehr nach Kenia zehn Jahre später seinen ausgestreckten Armen auswich und seine zärtlichen Worte selbst in Anwesenheit von Verwandten oder Freunden einfach überhörte.
    Nach meiner Flucht vor meiner Familie und nach Vaters Übersiedelung nach Großbritannien, erzählte Magool, verfolgte Ma alle Neuigkeiten über meinen Vater genau. Als sie erfuhr, dass er im Sterben lag und sehr leiden musste, schloss sie daraus, dass seine Seele nicht in Ruhe und Frieden gehen durfte. Mal versagten die Nieren meines Vaters, dann taten sie wieder ihren Dienst, mal konnte er selbstständig atmen, dann musste er an das Sauerstoffgerät angeschlossen werden. Für Ma waren das keine Symptome der Leukämie oder der Blutvergiftung, die in seinem Körper wütete und seine Organe zerstörte, sondern ein Zeichen oder Vorzeichen der im Islam so bedeutsamen Qualen, die ihn im Grab erwarteten.
    In der Hölle, die im Koran geschildert wird, lecken Flammen am Fleisch der Sünder: Unter den Füßen haben sie glühende Kohlen, die Kopfhaut wird ihnen versengt, das Gehirn gekocht. Diese Qualen haben kein Ende, denn die verbrannte Haut wächst nach und wird erneut verbrannt. Das Leid meines Vaters auf dem Sterbebett verstand meine Mutter als Vorgeschmack dessen, was Allah und seine Engel ihm als Strafe für seine Missetaten auferlegen würden.
    Vermutlich fragte sich meine Mutter: Wem hatte mein Vater größeres Unrecht angetan als ihr? Wen hatte er noch verlassen, betrogen, in fremde Länder geschleppt? Wer sonst hatte hungern und mit ansehen müssen, wie ihre vaterlosen Kinder nach seinem Weggang abtrünnig wurden und sie verrieten? Wer hatte mehr für die Sünden des Hirsi Magan Isse büßen müssen als sie? Meine Mutter hatte wohl das

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