Ich bin eine Nomadin
ich zweifellos eine Hure bin.
Wir, die wir in den Islam hineingeboren sind, schweigen vom Schmerz, von den Spannungen und widerstreitenden Gefühlen, die sich aus der Polygamie ergeben. (Die Polygamie ist natürlich älter als der Islam, doch der Prophet Mohammed sanktionierte sie und nahm sie ins Gesetz auf, ebenso wie die Kinderehe.) In Wahrheit fällt es den Frauen und Kindern eines Mannes schwer, so zu tun, als lebten sie glücklich und zufrieden alle zusammen. Die Polygamie schafft ein Umfeld der Unsicherheit, des Misstrauens, des Neids und der Eifersucht. Es werden Intrigen gesponnen. Wie viel bekommt die andere Ehefrau? Welches Kind ist ihm das liebste? Wen wird er als Nächste heiraten? Wie kann ich ihn am besten manipulieren? Rivalisierende Ehefrauen und ihre Kinder schmieden Ränke und verhexen sich angeblich gegenseitig. Wenn das Gefühl der Sicherheit und Verlässlichkeit das Rezept für eine gesunde und glückliche Familie ist, so steht die Polygamie für alles, was eine glückliche Familie nicht ist: Streit, Unsicherheit und ständige Machtkämpfe.
Meine Großmutter, ebenfalls eine zweite Ehefrau, behauptete immer, unsere Familie sei zu vornehm für Eifersucht. Vornehmheit ist in der somalischen Nomadenkultur gleichbedeutend mit Selbstbeherrschung und Belastbarkeit. Je höher ein Clan steht, desto selbstbewusster und damit auch stoischer sind seine Mitglieder. Es gilt als anstößig, Eifersucht oder andere Gefühlsregungen zu zeigen. Meine Großmutter bezeichnete es als Glück – andere sagten, sie sei verwöhnt –, als ihr Mann nach dem Tod seiner Erstfrau, die älter war als Großmutter, viele Jahre lang nicht mehr heiratete. Er nahm sich erst eine weitere Frau, als meine Großmutter acht Kinder zur Welt gebracht hatte – alles Mädchen.
Meine Großmutter war sich ihrer Position schon sicher gewesen, weil ihr Mann nicht wieder heiratete, obwohl sie ein Mädchen nach dem anderen bekam. Als er sich dann doch eine neue Frau nahm, gebar diese, zur ewigen Scham meiner Großmutter, lauter Jungen, bis mein Großvater insgesamt dreizehn Kinder hatte.
Da meine Großmutter doch nichts dagegen ausrichten konnte, erhob sie auch keinen Protest. Allerdings setzten sich nun ihre negativen Charaktereigenschaften durch, sie wurde bösartig und kleinlich und ließ ihre schlechte Laune an den Kindern aus.
Ich war schon erwachsen, als ich erfuhr, dass meine Großmutter meinen Großvater schließlich doch aus Eifersucht verlassen hatte. Nachdem seine neue Frau ihrem zweiten Sohn das Leben geschenkt hatte, konnte meine Großmutter die Scham und den Neid nicht mehr beherrschen. Sie verließ das gemeinsame Heim in der Wüste, angeblich, um sich um ihre erwachsenen Kinder zu kümmern, unter anderem meine Mutter.
Die Geschichte meiner Mutter verlief ähnlich. Sie war zwar die zweite Frau meines Vaters, doch mit dem Tage, an dem sie erfuhr, dass mein Vater eine dritte Frau genommen und noch ein Kind, Sahra, bekommen hatte, wurde meine Mutter launenhaft und ließ ihrer Trauer, ihrem Schmerz und der Gewalt freien Lauf. Sie hatte Ohnmachtsanfälle, entwickelte Hautkrankheiten und zeigte Symptome eines Wahns, der von unterdrückter Eifersucht herrührte. Aus der starken und gebildeten Frau wurde ein Wrack, und wir, ihre Kinder, bekamen ihr Elend mit voller Wucht ab.
Von den sechs Kindern meines Vaters, die die frühen Jahre überlebten, litten drei unter schweren seelischen Krankheiten, die sie stark beeinträchtigten. Meine Schwester Haweya starb, nachdem sie drei Jahre lang Depressionen und psychotische Anfälle gehabt hatte. Mein Bruder Mahad ist manisch-depressiv und nicht in der Lage, dauerhaft einer Arbeit nachzugehen. Eine unserer Halbschwestern leidet seit ihrem achtzehnten Lebensjahr unter wiederkehrenden psychotischen Episoden. Unter Tanten und Onkeln mütterlicher- und väterlicherseits gibt es Fälle von waalli oder angeborenem »Wahnsinn«, wie man alle psychischen Krankheiten auf Somali nennt.
Vielleicht befördert die Polygamie den Wahnsinn, vielleicht ist es auch der Widerspruch zwischen Wunsch und Realität. Alle meine Verwandten wollten unbedingt modern sein. Sie sehnten sich nach Freiheit, doch wenn sie die Freiheit fanden, waren sie verwirrt und zerbrachen daran. Psychische Instabilität hat natürlich biologische Ursachen, doch sie hängt auch mit der Kultur zusammen, in der wir aufwachsen, mit den Überlebensstrategien, die wir entwickeln, den Beziehungen, die wir mit anderen pflegen, und dem
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