Ich bin eine Nomadin
mit ihrem Dauergefühl des Verlassenseins und ihrem Selbstmitleid aufgewachsen. »Was bringt dich dazu, den Allmächtigen infrage zu stellen? Warum ist dein Glaube so schwach? Welche Überzeugungen hast du stattdessen? Was ist geschehen? Hat man dich verhext? Wie kommst du dazu, an Ihm zu zweifeln? Ich kann alles ertragen, aber dass du Allah entsagst und seinen Zorn auf dich ziehst, kann ich nicht ertragen. Du bist mein Kind. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass du in der Hölle endest.«
Ich dachte bei mir: Mein Glaube ist so schwach, weil Allah so frauenfeindlich ist. Er ist willkürlich und widersprüchlich. Wenn ich an ihn glauben wollte, müsste ich zuerst meine Verantwortung abgeben, Teil einer Herde werden. Er verbietet mir Freude, das Abenteuer des Lernens, Freundschaften. Mein Glaube ist schwach, Mutter, weil der Glaube an Allah aus dir eine verschreckte alte Frau gemacht hat – weil ich nicht sein will wie du.
»Wenn ich sterbe«, sagte ich, »werde ich verrotten.«
Ich bereute es sofort. Solche Worte wirkten auf sie wie Folter. Es spielte keine Rolle, dass es meine Überzeugung war, Ma interessierte sich nicht für meine Gedanken oder Antworten. Ihre Fragen zielten nicht auf meine Zustimmung ab, sondern auf Gehorsam. Sie wollte, dass ich sie anlog.
Daher wiederholte ich, es tue mir leid.
»Mutter, ich werde es versuchen, ich verspreche, ich werde mein Bestes tun«, murmelte ich. Das war scheinheilig, und ich wusste es.
Zuerst rief ich meine Mutter jeden Tag an, dann alle zwei Tage, dann jedes Wochenende. Unsere Telefonate wurden immer deprimierender, immer unerträglicher. Am Ende telefonierten wir nur noch einmal im Monat.
Unsere Gespräche waren immer angespannt. Ma wollte Vergebung von Gott. Ich wollte Vergebung von ihr. Sie wollte Vergebung für sich, weil Gott, da ich vom rechten Wege abgekommen war, sie womöglich im Jenseits dafür würde bezahlen lassen, dass sie mir seine Gebote nicht besser nahegebracht hatte. Im Gespräch stützten wir uns gegenseitig, indem wir unser jeweiliges Selbstbild weichzeichneten und uns gegenseitig unseren Stolz ließen. Ich konnte mich nicht überwinden, ihr Einzelheiten aus meinem Leben zu erzählen. Sie würde einfach alles als unreligiös, gotteslästerlich oder unmoralisch interpretieren. Ich versuchte, das Thema Religion zu vermeiden, doch in der somalischen Sprache ist das nicht so einfach, da jede Begrüßung und jeder Abschied mit Allahs Willen, seinem Erbarmen und seinem Segen einhergehen. Meine Mutter setzte jede erdenkliche Taktik ein, um mich zur Umkehr zu ihrer Überlebensstrategie – dem Glauben an den Islam – zu überreden. Dabei lag für mich der Islam an der Wurzel dessen, was mein Leben erst so unglücklich gemacht hatte.
Ich ertappte mich dabei, dass ich in meine alte Gewohnheit zurückfiel, ihre Litaneien mit Lauten zu quittieren, die ihr suggerierten, dass ich zuhörte, während ich in Wahrheit innerlich wegdriftete. Dann unterbrach ich sie irgendwann mit einer Frage. Nach einer Weile verlief ein typisches Telefonat mit meiner Mutter etwa so:
»Hallo, Ma. Ich bin es, Ayaan.«
» As-salam-alaikum. Möge Allah dich segnen.«
»Wie geht es dir, Mutter, hast du gut geschlafen?«
»Allah ist barmherzig. Er sorgt für mich. Ich schlafe gut und esse gut, weil der Allmächtige es so will. Und du, Ayaan, betest du?«
»Noch nicht, Mutter.«
»Du hast deine Mutter verlassen, und du hast deinen Gott verlassen. Spielt das für dich gar keine Rolle? Bitte, wasch dich, stell dich auf die Matte, neige den Kopf. Wer weiß, was Allah dir einhauchen wird.«
Scham und ein schlechtes Gewissen stiegen in mir auf, aber auch Wut über meine Scham und mein schlechtes Gewissen – wie leicht fiel ich doch in die alte Gewohnheit zurück, meine zornige Mutter zu beschwichtigen. Ich versuchte, das Thema zu wechseln. Hatte sie meine letzte Bankanweisung erhalten, um Medikamente und Essen zu bezahlen? Dann suchte ich das Weite. »Mutter, ich wollte nur kurz Hallo sagen. Jetzt muss ich aber los. Ich rufe wieder an, wenn ich mehr Zeit habe.«
»Was hast du vor? Wohin willst du? Denk daran, zu beten und Allah zu danken …«
»Ma, ich muss wirklich los.«
Wenn ich mit Ma telefoniere, befolge ich unwillkürlich die somalische Regel, nach der ein Kind ein Gespräch nicht beenden darf. Ich kann nicht einfach auflegen, sondern muss warten, bis sie mir ein entsprechendes Zeichen gibt.
»Eile ist schlecht. Warum hast du mich angerufen, wenn du keine Zeit
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