Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
Vom Netzwerk:
das damals, zu einem wertlosen Menschen ohne Rückgrat. Das beste von uns Kindern, dachte ich, war abberufen worden, und wenn sie nicht leben konnte, verdiente ich es auch nicht.
    Als mein Vater starb, vermisste ich nicht so sehr ihn als vielmehr die Illusion der Geborgenheit, das kindliche Gefühl, geliebt zu werden. Ich sehnte mich nach einem strukturierten, beständigen Leben, in dem meine Ziele und das Verhalten, das man von mir erwartete, harmonierten. Ich verstand durchaus, was Sahra und die anderen an der Religion schätzen: Sie gibt ihnen die Möglichkeit, wieder Kind zu sein, sie werden beschützt und an die Hand genommen, ihnen wird gesagt, was richtig und was falsch ist, was sie zu tun und zu lassen haben – sie brauchen nicht selbst zu denken.

    Ich bedauerte meine Entfremdung von Sahra und meiner Familie. Sahra wird wohl, objektiv betrachtet (oder zumindest sehe ich das so), unterdrückt, doch sie empfindet es nicht so. Sie hat eine Tochter und einen Ehemann, ist gefeit vor Einsamkeit, verspürt Zugehörigkeit. Sie hat die Sicherheit, die Kraft und die klaren Ziele, die aus ihrem Glauben fließen. Sie war bei meinem Vater, als er alt war und starb. Ich nicht.
    Ich war achtunddreißig Jahre alt und begann zu begreifen, warum die Menschen sich nach Zugehörigkeit sehnen und wie schwierig es ist, alle Bande zu der Kultur und Religion, in die man hineingeboren wurde, zu kappen. Nach außen hin hatte ich Erfolg. Man schrieb Artikel über mich, fragte mich nach meiner Lektüre und meiner Haltung zu Barack Obama. Ich hielt lange Reden und bekam viel Beifall. Doch mein Privatleben war ein Chaos. Ich war vor meiner Familie geflohen und nach Europa gegangen, weil ich mich nicht in eine Ehe mit einem praktisch Fremden, den ich nicht mochte, einsperren lassen wollte. Doch hier, in Amerika, fühlte ich mich entwurzelt, verloren. Als Nomadin immer auf Wanderschaft zu sein hatte so romantisch geklungen. Doch wenn man keine Heimat hat und aus dem Koffer lebt, ist das in Wahrheit ein kleiner Vorgeschmack auf die Hölle.
    Ich betrachtete das Schwarz-Weiß-Foto meiner Großmutter, das in meinem Wohnzimmer an der Wand hängt. Mich durchzuckte ein Schmerz, und ich mied ihre stechenden Augen. Doch ihre Worte hatten sich wie Messerstiche in mein Gedächtnis eingeprägt: »Die Welt außerhalb des Clans ist rau, und dort bist du allein.«

Kapitel vier
DIE GESCHICHTE MEINES BRUDERS
    Meine Mutter erzählte mir, dass mein Bruder Mahad, der in Nairobi lebte, unbedingt meine Telefonnummer haben wolle. Sie hatte ihm die Nummer nicht gegeben. Er werde mich sonst bitten, ihm bei der Beschaffung eines Visums für Europa oder Amerika zu helfen, und das wollte sie auf keinen Fall. Sie hatte furchtbare Angst, ihn an die Länder der Ungläubigen zu verlieren, die ihrer Ansicht nach Haweya in den Wahnsinn und den Tod getrieben hatten und mich zu noch Schlimmerem: zum Abfall vom Glauben, zu Sittenlosigkeit und ewiger Verdammnis. Der Westen hatte ihr ihre Töchter genommen, nur Mahad war ihr noch geblieben. Deshalb bat sie mich, ihm Geld zu schicken, damit er zu ihr nach Nordsomalia kommen und dort mit ihr leben könne.
    Welche widerstreitenden Gefühle hatten sich wohl in Mahad geregt, als er hörte, dass Abeh gestorben war? Als meine jüngere Schwester Haweya und ich noch klein waren, schien es uns, als besäße unser Bruder den Schlüssel zu einer ganz besonderen Beziehung zu unserem Vater. Mahad hatte unseren Vater besucht, als er in einem Gefängnis in Mogadischu saß. Ma hatte ihren Sohn immer an Orte mitgenommen, an die sich ihre Töchter nie hätten wagen dürfen.
    Dann flüchtete Abeh, und endlich durften auch wir Mädchen an dem Abenteuer teilhaben: Hals über Kopf verließen wir Somalia und zogen nach Saudi-Arabien, als Mahad zehn, ich acht und Haweya sechseinhalb Jahre alt war. Dort würden auch wir Mädchen endlich unseren Vater sehen, versprach Ma. Als wir Mahad anbettelten, uns doch etwas über Abeh zu erzählen, beschrieb er in pathetischem, schulmeisterlichem Ton eine Gestalt von mythischen Dimensionen: riesig groß, unglaublich stark, unvorstellbar verständnisvoll und gut.
    Ich fragte mich (und meinen Bruder), ob Abeh gehe wie wir normalen Menschen oder ob er schwebe. Mahad antwortete, ich sei dumm. Mahad sagte mir immerzu, wie dumm ich doch sei. Sein Wort dafür war » doqon« – leichtgläubig, naiv –, und das verletzte mich sehr. Aber ich war viel zu aufgeregt, weil ich Abeh endlich kennenlernen sollte, und ärgerte

Weitere Kostenlose Bücher