Ich bin eine Nomadin
war immer kleiner und unbeweglicher geworden, bis eines Tages ihre mächtige, Furcht einflößende Willenskraft das Atmen einstellte.
Ma erzählte mir, wie es ihr seither ergangen war. Sie wohnte allein in Sool, einem Bezirk im einstigen Gebiet ihres Dhulbahante-Clans, der aus nomadischen Kamelhirten besteht. Ich versuchte mir ein Bild zu machen: ein kleiner Weiler, Lehmziegelhütten, ungepflasterte Wege, Dornbüsche und ringsum staubige Einöde. Ich stellte mir vor, wie sie Holz holte, um Holzkohle für ihren kleinen Ofen zu machen. Vielleicht war es ihr zumindest ein Trost, beim Volk ihrer Vorfahren zu sein.
Dann brachte meine Mutter das Gespräch darauf, welche Anstrengungen ich unternahm, um mich auf das Jenseits vorzubereiten. »Betest du und fastest du, und liest du im Koran, meine Tochter?«
Ich dachte so lange über eine gute Antwort nach, dass sie mich fragte, ob ich noch da sei. Dann entschied ich mich, ihr die Wahrheit zu sagen.
»Ma, ich bete und faste nicht, und ich lese nur hin und wieder im Koran. Was dort steht, sagt mir nichts mehr.«
Kaum hatte ich die Worte gesprochen, da taten sie mir schon leid. Erwartungsgemäß fiel sie über mich her. »Ungläubige!«, schrie sie. »Du hast Gott verlassen und alles, was gut ist, und du hast deine Mutter verlassen. Du bist verloren!«
Dann legte sie auf.
Ich zitterte und unterdrückte nur mit Mühe die Tränen. Für meine Freundin Linda, die während des Gesprächs neben mir auf dem Fahrersitz gesessen hatte, war es nur eine Abfolge emotionsgeladener Worte in den fremden Klängen der somalischen Sprache gewesen. Nun beobachtete sie verwirrt, wie ich neben ihr in Wut geriet.
»Meine Mutter hört mir nie zu, das war schon immer so«, brach es aus mir heraus. »Hätte ich sie etwa anlügen sollen? Warum will sie, dass ich sie täusche? Ist das nicht Selbstbetrug? Was hat sie davon, wenn ich ihr sage, dass ich bete und faste? Ständig versucht sie, mir Angst einzujagen, ich soll glauben, dass die Toten eines Tages auferstehen und durch die Gegend rennen und in einem gigantischen Gerichtsverfahren in Gut und Böse unterteilt werden – das ist doch alles Irrsinn …« So ging es immer weiter, und meine Tiraden klangen schon wie die meiner Mutter.
Linda hielt mit der einen Hand das Steuer fest und versuchte mit der anderen, mich zu beruhigen. Sie beschwor mich, ihr zuzuhören. »Ayaan, bitte, versuch dich doch mal in deine Mutter hineinzuversetzen. Sie ist ganz allein …«
»Meine Mutter ist in Panik. Das ist schlimmer als Einsamkeit: Sie hat Angst«, sagte ich. »Sie glaubt an einen Gott, vor dem sie eine lähmende Angst hat. Sie hat Angst, dass ihr Gott mich im Grab foltern und im Leben nach dem Tod verbrennen wird. Das sind für sie keine Märchen, das ist so real wie die rote Ampel da vorne, und es ist das Einzige, was für sie zählt. Sie wird nie damit aufhören.«
Linda fuhr an den Straßenrand und hielt an. Dann sagte sie mir ordentlich die Meinung. Auch sie sei Mutter, und deshalb könne sie den Schmerz einer Mutter nachvollziehen. Meine Mutter habe zwar das Gespräch beendet, aber ich solle sie gefälligst sofort zurückrufen.
Was ich auch tat.
Ich war mir fast sicher, dass ich nicht durchkommen würde, und wenn doch, dass Ma gleich wieder auflegen würde. Ich dachte, sie würde vor Wut schäumen, in Selbstmitleid zerfließen und mich verfluchen. Sie nahm den Hörer ab und meldete sich. Ehe sie losschimpfen oder auflegen konnte, rief ich, so laut ich konnte: » Hooyo, es tut mir leid – es tut mir leid, dass ich nicht bete und faste – ich verspreche, ich werde mich bemühen – ich werde im Koran lesen und meinen Geist öffnen. Bitte, vergib mir …«
»Hör auf zu schwafeln, und hör mir zu«, unterbrach mich Ma, noch lauter. »Hör mir zu.«
Ich biss mir auf die Zunge, bat sie aber noch einmal, nicht aufzulegen.
»Ich lege nicht auf«, erwiderte sie. »Du bist diejenige, die vor Jahren einfach verschwunden ist, die mich mit deinem armen kranken Bruder Mahad allein gelassen hat. Deine Schwester ist gestorben, dein Vater hat mich verlassen, und meine Mutter ist auch tot – du bist alles, was ich noch habe. Ich lege nicht wieder auf.«
»Ma, es tut mir wirklich leid«, stammelte ich. »Ich möchte helfen. Ich habe Geld und möchte es dir schicken, aber wie mache ich das? Ich kenne hier in den Vereinigten Staaten keine hawala -Firmen, die das Geld sicher nach Somalia bringen können. Außerdem stehen bei der amerikanischen Regierung die
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