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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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hast? Du hast dich von Allah und von uns entfernt, du stehst an der Klippe. Du musst zu uns zurückkehren, du musst beten …«
    »Ma, ich muss zur Arbeit, bitte, lass mich gehen.«
    »Dann geh, mein Kind, möge Allah dich segnen und dich vor dem Dschinn und vor Satan schützen.«
    »Amin, Amin, Amin, dich auch … Tschüs.«
    Wenn ich auflegte, fühlte ich mich miserabel, kam mir vor wie ein Versager. Das lag daran, dass das Gespräch mit Ma tief in mir schlummernde Schuldgefühle weckte und mich an meine Pflicht erinnerte, meinen Eltern zu dienen und zu gehorchen. Solange ich nicht direkt mit Ma, anderen Verwandten oder Menschen aus unserer Kultur zu tun hatte, konnte ich solche Gefühle unterdrücken. Doch wenn ich ihre Stimme hörte und erfuhr, wie elend sie in ihrem abgelegenen Dorf in Somalia lebte, stachen mir Gewissensbisse tief in die Seele. Ma wusste zudem aus meiner Kindheit, wie sie mich lenken konnte. Wenn sie sich darüber beschwerte, dass sie von meinem Vater, Mahad und Haweya verlassen worden war, wenn sie über den Bürgerkrieg jammerte, über ihre Hautkrankheit, über Alter und Krankheit, quälte ich mich mit der Frage »Was wäre, wenn …?«. Was wäre, wenn ich ihr Geld hätte zukommen lassen, wenn ich sie angerufen, ihr Bilder geschickt hätte, sie nur hätte wissen lassen, dass ich mich um sie sorgte, dass ich ihre Tochter war?
    Ich fragte mich, ob ich ein »gutes« Kind gewesen war. Pflichtbewusstsein war die wichtigste Tugend, die man mir als Kind eingetrichtert hatte. Aber ich kannte die Antwort ja. Mir war klar, dass ich meine Mutter aus der Perspektive meiner Erziehung, nach ihren Maßstäben, im Stich gelassen hatte.

    Es fiel mir nicht leicht, die nostalgischen Gefühle, die mich nach dem Tod meines Vaters überkamen, in Schach zu halten. Meine Erinnerungen sind seltsamerweise geprägt von den Farben eines Ortes, sodass schon der Gedanke an die Farben tröstlich sein kann. Lange, nachdem ich die Geschichten, Straßen und sogar die Menschen vergessen habe, kehre ich innerlich zu den Farben zurück.
    Ich erinnere mich an den schmutzig weißen Sand vor unserem Haus in Mogadischu und an das Blau des wolkenlosen Himmels, an die weißen Häuser mit den Fensterläden, manche blau, die meisten grün, ein breites Spektrum verwitterter Grüntöne. Die Bougainvilleen waren in der erbarmungslosen, gleißenden Sonne wie lauter kleine Explosionen in Lila, Rosa, Karmesinrot und sämtlichen Zwischentönen. Ich erinnere mich an das Gelbgrün des Papapyabaums und die braunen Flecken im Fell der weißen Ziegen, die man schon von Weitem von den Schafen unterscheiden konnte, weil die Schafe am Kopf schwarz und am Körper weiß waren. Ich erinnere mich an das Kobaltblau meiner ersten Schuluniform und die gelben Hemden der Jungen, vor denen ich Angst hatte. Die leuchtenden Farben der Schals und kunstvoll drapierten Tücher der Frauen und die dunkleren Grau- und Grüntöne der Sarongs, die die Männer trugen, sehe ich so lebendig vor mir, als hätte ich sie gestern noch um mich gehabt. Ich erinnere mich an die Palette der Grau-, Weiß- und Schwarztöne in Saudi-Arabien und die schrillen, sich beißenden Farben in Kenia. Meine Erinnerungen an Holland sind geprägt von blassen, aber lieblichen Farbkombinationen, gedämpft cremefarbenem Stein, sanftgrünen Wiesen und einem grauen Himmel.
    In den Wochen und Monaten nach dem Tod meines Vaters war es in Amerika Herbst. Wenn ich im Norden des Staates New York in dem Haus, in dem ich damals wohnte, aus dem Fenster sah, beherrschten große Bäume die Landschaft – Eichen und Ahorn, so erfuhr ich. Ich konnte förmlich zusehen, wie sich ihre großen Blätter verfärbten, manche braun, manche gelb und rot. Dann fielen sie zu Boden und bildeten einen wunderschönen, riesigen Teppich, geschmückt mit goldenen, braunen und blutroten Mustern.
    Der Himmel hat in Amerika ein anderes Blau. Es ist nicht das grelle Blau über Mogadischu oder das trübe Grau über dem holländischen Leiden. Ich sehnte mich nach der Wärme eines Kamins, wollte in die Flammen blicken, die in ihrer Schönheit der Natur draußen so ähnlich sind. Ich wollte meine Zehen wärmen und darüber nachdenken, wie es wohl wäre, wenn ich noch im Kreis meiner Familie lebte.
    Als meine Schwester Haweya 1998 starb, wollte ich auch sterben. All die Kompromisse, die ich eingegangen war, um mit den alten Werten, die man uns beigebracht hatte, in einem modernen Land Erfolg zu haben, reduzierten mich, so empfand ich

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