Ich bin eine Nomadin
will.«
»Abaayo.« Das Mitleid war Magool jetzt deutlich anzuhören. »Ich gebe dir ihre Telefonnummer. Ja, sie will mit dir reden. Sie ist jetzt ganz allein. Bis vor wenigen Monaten war meine Mutter noch bei ihr, aber die lebt jetzt bei ihrem Bruder in Tansania. Deine Mutter ist völlig auf sich gestellt, und sie fragt ständig nach dir. Bitte, ruft sie an. Versprich mir, dass du sie anrufst.«
Zuerst überkam mich eine fast kindliche Aufregung, gefolgt von Angst. Ich fürchtete mich vor dem Streit, der unausweichlich war, wenn ich mit meiner Mutter sprach. Doch das Pflichtgefühl, das sie mir eingepflanzt hatte, und das schlechte Gewissen, dass ich sie vernachlässigt hatte, gewannen die Oberhand. Mein Vater war gerade gestorben. Was, wenn auch meine Mutter krank wurde? Würde ich sie besuchen? Die Antwort kannte ich schon: Meine Mutter lebt in Somalia, wo man mich als Abtrünnige sofort bei meiner Ankunft umbringen würde. Ich würde sie nicht an ihrem Sterbebett besuchen können.
Probieren konnte ich es ja einmal. Also wählte ich die Nummer, die mir Magool gegeben hatte. Am anderen Ende kamen das Störzeichen, dann das Besetztzeichen und dann eine weibliche Tonbandstimme, die mir auf Englisch und Spanisch erklärte, alle Leitungen seien belegt, ich solle es später noch einmal probieren. Diese Prozedur wiederholte sich immer und immer wieder. Magool hatte mich gewarnt, es würde nicht leicht sein, nach Somalia durchzukommen, und mir geraten, es immer wieder zu probieren. Ich versuchte es so oft, dass ich schon automatisch die Nummer wählte, wenn ich ein bisschen Zeit hatte. Fast glaubte ich, Magool hätte mich an der Nase herumgeführt und mir die falsche Nummer gegeben. Eines Nachmittags, ich war mit einer Freundin in ihrem Land Rover unterwegs, um mit ihr für eine Wohnung, die ich gemietet hatte, Möbel zu kaufen, erreichte ich tatsächlich den Anschluss meiner Mutter in ihrem Lehmhaus in Las Anod. Las Anod liegt zwischen den autonomen Regionen Somaliland und Puntland, die einst zu Somalia gehört hatten.
» Hello «, sagte eine leise Stimme am anderen Ende der Leitung. (Dieser Gruß stammt aus der Zeit, als die Briten das Telefon in Somalia einführten. Seither melden sich die Somalis am Telefon mit hello .)
»Hallo, hooyo, Ma. Ich bin es, Ayaan.«
Ich hielt den Atem an, weil ich mir sicher war, dass sie mich verfluchen und auflegen würde.
»Hallo, hast du gesagt Ayaan?« Jetzt war ich mir sicher, dass es meine Mutter war – ich hatte ihre Stimme zuerst nicht erkannt.
» Hooyo, Mutter … Mutter. Ja, ich bin es, Ayaan. Bitte leg nicht auf.«
»Allah hat dich zu mir zurückgebracht, ich werde nicht auflegen.«
»Mutter, wie geht es dir? Weißt du, dass Vater kürzlich gestorben ist?«
»Ich weiß. Du musst wissen, meine Tochter, der Tod ist das Einzige, was gewiss ist. Wir werden alle sterben. Welche Verdienste hast du dir fürs Jenseits erworben?«
Ich seufzte innerlich. Meine Mutter war ganz die Alte. Es war, als hätte es die fünf Jahre, in denen wir nicht miteinander gesprochen hatten, nie gegeben. Ihre Stimme war dieselbe, der Akzent ihres Dhulbahante-Clans, aber auch das ständige Gerede von Tod und Jenseits, ihre Erwartungen und Forderungen, die unverhohlene Enttäuschung über mich, ihre älteste Tochter. Ich versuchte, das Thema zu wechseln. »Ma, ich finde, es war sehr gütig von dir, Magool zu ihm zu schicken, damit sie ihm in deinem Namen vergibt.«
»Hat sie ihm meine Nachricht übermittelt?«, fragte sie gespannt. »Was hat er gesagt?« Meine Mutter wollte unbedingt wissen, wie Magool die Sache gemeistert hatte. Sicher hatte sie Gerüchte über Magools gottloses Leben gehört, denn sie fragte auch, ob ihre Abgesandte im Krankenhaus angemessen gekleidet gewesen sei.
»Ma«, erwiderte ich, »Magool ist eine verantwortungsbewusste und ehrbare junge Frau. Sie hat genau das getan, worum du sie gebeten hast. Sie hat mir erzählt, dass Abeh reagiert hat, dass er sie verstanden hat. Du kannst dir gewiss sein, dass es nicht zu spät war.«
»Ayaan, hast du ihn besucht?«
»Ja, Ma. Ich bin froh darüber. Es war hart.«
So ging unser Gespräch weiter, steif und verkrampft, fast wie zwischen zwei Fremden, doch ständig schwangen unausgesprochene Bedeutungen und Ängste mit. Ma erzählte mir vom Tod meiner Großmutter im Jahr 2006 – »um die Zeit, als Saddam Hussein verurteilt und hingerichtet wurde«, hatte Magool gesagt. Großmutter hatte ihr Gehör verloren, erzählte mir Ma, und
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