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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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ihren Sohn und ihren Ehemann.
    »Ja, Vater«, antwortete Mahad mit zitternder Stimme.
    »Aber du bist trocken, man sieht gar keine Feuchtigkeit.«
    »Ich trockne schnell«, stammelte Mahad.
    Abeh wurde laut: »Lügner! Lügner! Du kleiner, schmutziger Lügner, du wirst nie ein Mann werden. Du hast einfach nicht das Zeug dazu! Geh mir aus den Augen! Versteck dich nur hinter den Rockzipfeln deiner Mutter, da gehörst du hin.«
    Mahad liefen die Tränen über die Wangen. Er stand da und sah zu, wie mein Vater sich umdrehte und das Zimmer verließ. Am nächsten Morgen rüttelte Abeh Mahad dann immer wach und zog ihn zum Waschbecken, wo er neben ihm stehen blieb, während Mahad seine Waschungen vornahm. Oder Abeh zeigte ihm, wie man die Waschungen schnell erledigen konnte. Wasch dir die Hände, reinige deinen Mund, indem du dreimal gurgelst, und dann die Nase. Abeh schöpfte Wasser mit der Hand, führte es schnell an die Nasenlöcher und zog es hoch – wenn Mahad das versuchte, prustete, hustete und nieste er wie ein ertrinkendes Lamm. Nach langem Gezanke und Geschimpfe wurde Mahad schließlich zum Gebetsteppich geführt, wo Haweya und ich auf ihn warteten. Dann schlichen wir uns alle in unsere Betten zurück: Gebetet wurde um fünf Uhr morgens, und zur Schule mussten wir erst um sieben Uhr. Wieder musste mein Vater Mahad wachrütteln, ihm befehlen, sich die Zähne zu putzen, das Gesicht zu waschen, die Uniform anzuziehen und sich fertig zu machen, und zwar schnell. Mahad gehorchte nie. Immer, wenn wir gerade losgehen wollten, sah mein Vater Mahad auf einem Holzschemel sitzen, halb angezogen, mit beiden Socken in den Händen vor sich hin dösend, den Mund leicht offen, die Augen geschlossen, den Kopf auf einer Seite hängend, als würde er gleich abfallen.
    Abeh schlich sich zu ihm hin, näherte sein Gesicht Mahads herabhängendem Kopf, gab ihm eine Ohrfeige und brüllte ihn an: »Wach auf, Weib!« Er roch Mahads Atem und rief: »Du hast Mundgeruch, du hast dir nicht die Zähne geputzt.« Er brüllte: »Du bist nicht mein Sohn, du bist wirklich ein wa'al, ein Bastard!«
    Wenn Abeh Mahad vom Stuhl zog, griff Ma ein. Irgendwie drängte sie sich zwischen die beiden, und sobald Abeh aufgab, half sie Mahad, die Socken anzuziehen.

    Wenn Abeh wochenlang weg war, sehnte ich mich nach ihm. Haweya fragte nach Abeh. Ma jammerte, dass sie allein sei und ihr Ehemann sie im Stich lasse. Mahad jedoch fragte nie nach unserem Vater. Er trieb sich mit den Jungen aus dem Viertel herum. Wenn Ma schließlich verkündete, dass Abeh auf dem Heimweg sei, tanzte und hüpfte ich vor Freude – Mahad dagegen verfiel in dumpfes Brüten, und dieser Gesichtsausdruck verschwand erst wieder, wenn Abeh abreiste.
    Abgesehen von der Schule, dem Koranunterricht und ein paar Verwandtenbesuchen verließen Haweya und ich praktisch nie das Haus. Wir durften uns nie hübsch anziehen und ausgehen. Wir saßen drinnen fest und langweilten uns unendlich, in der stickigen, kleinen Wohnung in Mekka und später in einem sehr viel geräumigeren Haus in Riad. Mahad dagegen machte sich fein und ging mit meinem Vater an so männliche Orte wie zur Moschee, zum Souk oder zu einem formellen somalischen Mittag- oder Abendessen.
    Auch am Freitagsgebet entzündeten sich die Geschwisterrivalitäten. An jedem Donnerstagabend, an dem mein Vater zu Hause war, bügelte meine Mutter seinen und Mahads thaub, das lange, weiße hemdähnliche Gewand, das die saudischen Männer tragen. Sie legte ihre imamah- Kopftücher und schwarzen igal- Kordeln zurecht, und beim Abendessen erklärte Abeh Mahad, wie er sich benehmen und wen er grüßen sollte. Ma nannte Mahad ihren Prinzen und sagte, dass sein Verhalten auf Abehs und unser aller guten Namen zurückfallen werde.
    Haweya und ich bettelten darum, Abeh in die prächtige Moschee begleiten zu dürfen und dabei zu sein, wenn die Männer sich vorher trafen, um über Politik und Stammesangelegenheiten zu reden, sich an den öffentlichen Wasserhähnen wuschen und sich gemeinsam verbeugten. Wir schworen, dass wir unsere freundlichsten Mienen aufsetzen und der Familie keine Schande bereiten würden. Die Antwort war immer dieselbe. Die Ehre eines Mädchens wurde am besten zu Hause gewahrt.
    Jeden Freitagmorgen sahen wir zu, wie Mahad und Abeh das Haus verließen, und fühlten uns der Welt draußen beraubt, der Welt jenseits der Tür, die vor unserer Nase zuschlug. Diese Welt gehörte den Männern. Wir waren als Mädchen geboren. Es war Allahs

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