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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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höre er sie nicht. Diese Worte übersetzte er nie.
    Mahads Beziehung zu Abeh schwierig zu nennen wäre noch untertrieben. Von dem Augenblick an, als unser Vater endlich in Saudi-Arabien ankam, betete er mich an – er verwöhnte mich, verzieh mir alles, hätschelte mich und strich mir übers Haar. Er ließ zu, dass Haweya auf seine Schultern kletterte, an seinen Haaren zerrte und in der winzigen Wohnung hin und her rannte und dabei die alten Kriegsschreie ausstieß, die unsere Großmutter uns beigebracht hatte. Mahad gegenüber war Abeh jedoch alles andere als nachsichtig. Kaum einmal zeigte er ihm seine Zuneigung. Er befahl Mahad, gerade zu stehen, das Kinn vorzurecken und ihm in die Augen zu blicken. Von seinem Sohn erwartete er tadelloses Verhalten, was seine Manieren, seine Kleidung, sein Gebet und seine Hilfe für unsere Mutter betraf.
    Mahad konnte es Abeh nie recht machen. Wenn er es nicht schaffte, die hohen und oft vagen Ansprüche unseres Vaters zu erfüllen, ging Abeh wütend auf ihn los: Er demütigte ihn und schlug ihm oft ins Gesicht.

    Nach unserem Umzug in die saudische Hauptstadt Riad besuchte uns einmal ein Verwandter meines Vaters. Er fuhr mit einem weißen Toyota Pick-up vor und ließ den Zündschlüssel stecken, um erst meine Eltern zu begrüßen, bevor er einen Parkplatz suchte. Als er mit ausgestreckten Armen das Haus betrat, drückte sich Mahad an ihm vorbei und rannte zum Pickup. Er startete den Motor, trat aufs Gaspedal, dann auf die Bremse und schlug sich den Kopf am Steuerrad auf. Das Auto reagierte auf Mahads Fahrversuche mit einem Kreischen, das die Aufmerksamkeit der Erwachsenen erregte, während sie gerade ein kompliziertes Begrüßungsritual zelebrierten. Ma stürzte ohne ihren schwarzen Hidschab nach draußen und stieß einen Entsetzensschrei aus. Sie rief, Mahad habe sich am Kopf verletzt. Mein Vater lief mit großen Schritten aus dem Haus, öffnete die Tür des Pickups, zog Mahad heraus, hob ihn mit beiden Armen hoch und warf ihn zu Boden. Dann gab er ihm einen Tritt. Mit einer einzigen Bewegung zog er seinen Gürtel aus den Schlaufen und begann auf meinen hilflos am Boden liegenden Bruder einzuprügeln.
    Wie immer, wenn Abeh Mahad schlug, stürzte sich Ma auf unseren Vater, schrie Verwünschungen, bat Allah, ihn unfruchtbar zu machen, und rief unsere Vorväter an, ihn zu lähmen. Sie trommelte auf die Schultern und den Rücken unseres Vaters, dann warf sie ihre Schuhe nach ihm. Vater schleuderte Mahad ein paar verächtliche Worte ins Gesicht, irgendetwas über Ehre, dann ging er ins Haus zurück und kümmerte sich um seinen Verwandten. Mahad wand sich vor Schmerzen und fühlte sich doppelt gedemütigt, weil nicht nur wir Mädchen zuschauten, sondern auch noch die kleinen Jungen aus den Nachbarhäusern. Zunächst riss er sich furchtbar zusammen und unterdrückte die Tränen, doch irgendwann konnte er nicht mehr und heulte wie ein Tier.
    Jeden Abend befahl Abeh, wir sollten uns waschen, die Zähne putzen, Nachthemden und Schlafanzug anziehen, beten und ins Bett gehen. Haweya und ich gehorchten gewöhnlich, doch Mahad verweigerte sich dieser alltäglichen Routine, um Abehs Geduld auf die Probe zu stellen. Er ging ins Bad, schloss die Tür zu und blieb ewig dort. Meine Mutter lauschte, ob sie das Wasser laufen hörte, aber da war nichts. Niemand wusste, was Mahad im Bad machte, aber ganz sicher drehte er nicht die Dusche auf. Währenddessen verschob sich auch unsere Zubettgehzeit immer weiter nach hinten. Ma hielt Vater davon ab, die Tür aufzubrechen. Irgendwann (nach meinen Gefühl waren Stunden vergangen) tauchte Mahad dann wieder auf, so trocken, wie er ins Badezimmer hineingegangen war, in denselben Kleidern wie vorher. Meine Eltern stritten sich laut, Ma zankte mit meinem Vater, und Abeh konterte, indem er Mahad mit Schimpfwörtern belegte. Es waren schmachvolle Beschimpfungen – er verglich Mahad mit einem Mädchen, nannte ihn einen Feigling, drohte damit, ihn mit dem Riemen zu schlagen, sagte, er sei nicht sein Sohn.
    Manchmal, wenn Abeh kurz vor der Gebetszeit zu Hause war, fauchte er Mahad an: »Du dreckiger Junge, oder vielleicht sollte ich dich lieber ein Mädchen nennen, hast du dich gewaschen?«
    Mahad blickte zu Boden und presste hervor: »Ja, Vater.«
    Abeh brüllte: »Schau mich an, schau mir in die Augen!«
    Mahad hob das Kinn und fixierte eine Stelle auf der Stirn meines Vaters.
    »Hast du deine Waschungen vorgenommen?«, knurrte Vater. Ma stellte sich zwischen

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