Ich bin eine Nomadin
Entscheidung. Unsere Rolle – im Allgemeinen meine, denn Haweya war noch zu klein – bestand darin, bei der Zubereitung des aufwendigen Mittagsmahls am Freitag mitzuhelfen. Das brachten wir auf den Tisch, nachdem die Männer die Moschee verlassen hatten und zum Gericht, dem sogenannten Chop-chop Square, gegangen waren. Dort nahmen die Männer und Jungen Platz und sahen zu, wie Sünder bestraft wurden: Steinigungen, Auspeitschungen, Amputationen und Enthauptungen. Abeh hielt sich selten länger dort auf, doch Mahad genügte schon ein Blick im Vorbeigehen.
Mahad hatte freitags nie Appetit. Er kam nie fröhlich oder aufgeregt vom wöchentlichen Besuch in der Moschee und auf dem Chop-chop Square nach Hause, sondern war nur noch stiller und grüblerischer. Sein Verhalten gegenüber Abeh wurde immer schlimmer. Es sah so aus, als sabotiere er absichtlich jeden noch so einfachen Befehl. Auch mir gegenüber wurde er gewalttätiger, und er ging selbst auf Haweya los, die er immer besonders gern gehabt und beschützt hatte. Er schlug uns ständig. Als kleine Kinder hatten wir uns oft gekabbelt, aber jetzt waren seine Tritte und Schläge viel grausamer, und er hatte sogar angefangen, mit Gegenständen zu werfen. Es war, als ob er alle Hemmungen verloren hätte.
Andere Jungen, die wir damals kannten, hatten ebenso viel Angst vor ihren Vätern wie Mahad vor Abeh. Die Söhne der somalischen Verwandten, mit denen wir uns trafen, begegneten ihren Vätern und älteren Männern überhaupt mit Ehrfurcht. Bei unseren saudischen und palästinensischen Nachbarn in Riad und Dschidda war es das Gleiche. Die Jungen gingen in Gruppen hinaus und spielten auf der Straße, bis ein Vater auftauchte. Da erstarrten sie alle und schlichen mit hängenden Köpfen nach Hause. Die väterliche Autorität gründete auf körperlicher Gewalt und harscher Verachtung für jeden Fehler, den der Sohn machte. Dann wieder wurde der Junge gelobt – vor allem von den Frauen, aber manchmal auch von seinem Vater –, und zwar in so hohen Tönen, dass es selbst in unseren Ohren übertrieben und unrealistisch klang.
So sagte Abeh zum Beispiel zu Mahad: »Du wirst ein Volk regieren. Du wirst die Unterdrückung in Somalia abschaffen. Du wirst ein gerechter Herrscher sein.« Mutter nannte ihn oft einen Prinzen. Sie sprach von ihm als dem Auserwählten. Sie erklärte ihm, dass ihr Vater ein Richter gewesen sei und dass sein Großvater Land und Menschen erobert habe: Es sei Mahads Bestimmung, ein großer Führer zu werden.
Mahad war begeistert. Er konnte sich durchaus vorstellen, ein Herrscher zu werden. Die palästinensischen Zehn- und Elfjährigen, mit denen er spielte – Flüchtlinge aus dem Konflikt mit Israel –, bekamen auch ständig gesagt, dass sie zu Helden heranwachsen und die Juden praktisch im Alleingang aus ihrem Land vertreiben würden. Auf der Straße spielten die Jungen ein Kriegsspiel, die Vertreibung der bösen Juden, bis sie zum Mittagessen oder zum Gebet gerufen wurden oder man sie ermahnte, nicht so laut zu sein.
Mahads Schulzeugnisse waren hervorragend, doch seine saudischen Lehrer sagten, er sondere sich oft ab und beteilige sich nicht gern an Gruppenspielen. Zunächst bat Mahad uns Mädchen, unserer Mutter zu erklären, dass er in der Schule »schwarzer Sklave« gerufen wurde. Abehs Antwort darauf war: »Du musst dem Jungen, der dich abid nennt, einen guten Grund geben, das nie wieder zu tun.« Gern erzählte er Mahad, wie er, Abeh, eigenhändig viele Männer im Kampf besiegt habe, und er versuchte, ihm das Kämpfen beizubringen. Er verpasste Mahad Kopfstöße, und Mahad durfte keinen Schmerz zeigen und nicht weinen, selbst wenn Abeh seinen kleinen Kopf mit seinem eigenen großen, schweren zusammenprallen ließ.
Irgendwann hörte Mahad dann auf, unseren Eltern zu erzählen, was in der Schule los war. Beim Essen nahm er seinen Teller und warf ihn mit einem herzzerreißenden Schrei quer durchs Zimmer. Er schlug immer wieder mit den Fäusten auf den Tisch und provozierte Schlägereien mit anderen Jungen – er war ein wandelndes Pulverfass. Seine Noten blieben hervorragend, doch sein Brüten wurde unterbrochen von Gewaltausbrüchen, die meist ich zu spüren bekam. Dann wieder war er monatelang so passiv, dass er buchstäblich aus dem Bett gehoben werden musste. Und erst nach ewigem Stupsen und Schimpfen tat er überhaupt irgendetwas.
Wir zogen nach Äthiopien, wo es keine so erstickende Trennung der Geschlechter gab wie in Saudi-Arabien. In
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