Ich bin eine Nomadin
Äthiopien gingen Männer und Frauen ganz frei miteinander um, auch in der Schule, und wir waren unglaublich froh darüber. Der Glücklichste von uns war Vater: Abeh war ganz in seinem Element. Das Hauptquartier seiner somalischen Widerstandsbewegung war riesig, es hatte mehrere Hundert Zimmer: Manche für Soldaten, andere für Politiker und Intellektuelle, die für den Exil-Radiosender arbeiteten und weitere Männer aus Somalia locken wollten, damit sie sich unserer Sache anschlossen. Vater stand an der Spitze dieser Hierarchie. Stundenlang diskutierte er die Strategie, tat Ressourcen auf, stärkte die Moral der Soldaten. Er schrieb auch Geschichten, die er unter dem Titel »Die Quelle der Heilung« jede Woche im Radio sendete.
Allerdings war meine Mutter der unglücklichste Mensch in ganz Äthiopien. In ihren Augen waren die Äthiopier Sünder (weil sie keine Muslime waren) und gesellschaftlich wie kulturell minderwertig. Außerdem führten sie Krieg gegen Somalia. (Abeh führte auch Krieg gegen Somalia, aber das war nicht dasselbe: Er kämpfte gegen einen Diktator, so sagte sie, während die Äthiopier die ältesten Feinde unserer Nation seien.)
Mahad, Haweya und ich waren wirklich froh über den Umzug. Vor allem Mahad konnte sich mit den somalischen Männern unseres Clans treffen, die aussahen wie er, die unsere Sprache sprachen und ihn nicht als abid bezeichneten. Meines Vaters wegen brachten sie ihm Respekt entgegen – sie waren freundlich und nachsichtig. Meine Mutter bemühte sich, den jungen Männern jene Gerichte vorzusetzen, die sie lange hatten entbehren müssen: Lamm, Reis, verschiedene Arten von Nudeln, Gewürze wie Koriander und Ingwer, die ihnen endlich wieder das Gefühl gaben, zu Hause zu sein.
Die meisten jungen Männer kauten qat, eine Droge. Sie saßen im Kreis, tranken schwarzen Tee mit viel Zucker, hielten die Stängel und sortierten die Blätter – die trockenen warfen sie weg, die weicheren, saftigen, steckten sie in den Mund. Sie schoben sie in die Backentasche und saugten den Saft aus dieser Droge. Natürlich waren Mahad und oft auch Haweya und ich dabei, wenn sie sich trafen.
Ma tadelte unseren Vater: »Schau, was du angerichtet hast! Du hast deinen einzigen Sohn mit Drogen in Kontakt gebracht. Er wird ihnen nacheifern. Er wird von qat abhängig werden.«
Abeh versuchte dann immer, sie zu beruhigen: »Mahad ist mein Sohn. Er ist ein Magan. Unterschätze meinen Sohn nicht. Er wird so etwas nie tun. Du weißt doch, dass in der ganzen Familie Magan niemand qat kaut.«
Und dann zählte Ma all die Angehörigen der Familie Magan auf, die sehr wohl qat kauten. Sie wollte wieder nach Saudi-Arabien – dass wir nicht nach Somalia zurückkonnten, war klar. »Unser Name, die Traditionen unserer Ahnen, das alles schützt uns nicht mehr vor diesen Übeln«, erinnerte sie Abeh. »Ich habe Schutz im Haus Gottes gesucht: Ich wollte, dass wir in Mekka leben, wo man uns fünfmal am Tag zum Gebet ruft, wo wir rein bleiben können. Du hast uns hier in ein böses Land gebracht. Diese Leute waschen sich nie. Gestern ging ich mit meiner Mutter spazieren, und eine Frau hockte sich plötzlich auf den Gehweg und pinkelte! Vor unserer Nase! In diesem Land trinken sie Alkohol, und sie treiben mehr Unzucht als Faadumo Artans Ziegenböcke. Mahad ist unser einziger Sohn. Er wird hier verdorben. Diese Anlage hier ist zu groß. Ich versuche, ihn im Auge zu behalten, aber er entwischt mir immer. Er ist fast zwölf, bald wird er größer sein als ich.«
Mahad hatte nun die Wahl zwischen mehr als zehn Badezimmern, in denen er sich verstecken konnte. Die Gebäude waren sehr lang, mit vielen Zimmern. Wenn er den Befehl bekam, sich zu duschen, sagte er einfach: »Ja, ich gehe da und da duschen.« Ma war erschöpft, und Abeh nahm mal wieder an irgendeinem spätabendlichen Treffen teil, also lief Mahad los und kam erst wieder, wenn wir alle schliefen, oder vielleicht sogar erst am nächsten Morgen: Er schlief einfach, wo es ihm gerade passte. Ma war ratlos – einerseits wollte sie die Unterstützung meines Vaters, andererseits hasste sie es, dass er Mahad so schwer bestrafte. Meist verzichtete sie darauf, Abeh zu Hilfe zu rufen. Morgens kam immer ein Fahrer im Landrover, um uns zur Schule zu bringen, und Mahad setzte sich auf den Vordersitz, immer noch in derselben Uniform, die er schon seit Tagen trug und die aussah, als hätte er sie nicht einmal zum Schlafen ausgezogen. Seine Augen waren rot, schlafverkrustet, und
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