Ich bin eine Nomadin
auf den Wangen hatte er Flecken aus getrocknetem Speichel. Sein Haar, das er nicht schneiden ließ, war zu einer riesigen Afro-Frisur gewachsen, und weil er immer auf einer Seite schlief, sahen seine Haare nach dem Aufstehen aus wie feuchte Zuckerwatte und gar nicht wie ein schöner runder Afro. Irgendwie vergaß er immer seine Schuhbänder oder seinen Ranzen, und sein Mundgeruch war zum Fürchten.
Diese ganze Unordnung fiel nicht nur auf Mahad zurück, sondern vor allem auf meinen Vater. Der Fahrer, Haile Gorgeus, betrachtete Mahad voller Verachtung. Hin und wieder verbot er ihm, in diesem Zustand ins Auto zu steigen. Dann kam Ma heraus, die Hände voller Frühstücksdosen, und bei Mahads Anblick schrie sie aus Leibeskräften. Mein Bruder weinte und bettelte: »Bitte, bitte, erzähl Vater nichts davon.« Ma bat den Fahrer zu warten und schob Mahab zurück in unsere Wohnung, wo sie und meine Großmutter ihn auszogen und eigenhändig abschrubbten, obwohl er vor Schmerz und Scham heulte. Meine Großmutter hielt ihn an den Haaren fest und putzte ihm die Zähne, bis das Zahnfleisch blutete.
Die drei zogen eine regelrechte Verschwörung auf, damit Abeh von all dem nichts mitbekam. Haweya ging zu Fuß los, was Haile Gorgeus wahnsinnig machte, und ich tadelloses Musterkind beschwerte mich bei jedem, der es hören wollte: »Wir kommen bestimmt wieder zu spät zur Schule.«
Irgendwann erschien Mahad dann endlich, sauber, rotäugig und in schrecklicher Laune. Er forderte totales Schweigen im Auto und bestrafte jeden, der sich nicht daran hielt. Es war die reinste Tyrannei. Und wir kamen wirklich oft zu spät zur Schule. Aber niemand von uns erzählte Abeh davon. Wir alle hatten uns verschworen, den Prinzen, unseren älteren Bruder, zu schützen.
Mahad schloss Freundschaft mit ein paar jungen Soldaten aus Abehs Exilarmee, bevor sie an der äthiopisch-somalischen Grenze in den Kampf geschickt wurden. Einige von ihnen kamen nicht zurück, anderen fehlten ein oder beide Beine oder ein Auge. Manche waren so schwer verwundet, dass sie nur noch kurze Zeit zu leben hatten. Haweya und ich durften nicht zu Begräbnissen gehen, während Mahad daran teilnehmen musste. Haweya und ich würden später Ehefrauen und Mütter werden, Mahad würde an die Front gehen müssen. Wenn es seine Bestimmung war, das Kommando zu führen, würde er seine Männer in den Tod schicken. Aber niemand fängt als Kommandeur an: Jeder beginnt als einfacher Soldat, und Mahad schien diesen Gedanken nicht ertragen zu können.
Seine Noten blieben hervorragend. Er war der bei Weitem Intelligenteste von uns Kindern. Problemlos lernte er Amharisch. Sein schriftlicher und mündlicher Ausdruck, seine Grammatik, seine Noten in Mathematik, Geografie, Naturwissenschaften – alles großartig. Doch seine Lehrer in Äthiopien beklagten sich wie zuvor schon die in Saudi-Arabien darüber, dass er nichts sagte und vor sich hin grübelte.
Als meine Mutter eine Totgeburt hatte, war das Haus in Trauer gehüllt. Meine Mutter wurde immer schwermütiger, bis die Schwermut den ganzen Haushalt mit einer schweigenden, bitteren Feindseligkeit erfüllte. Endlich gab Abeh nach und willigte ein, dass wir aus Äthiopien wegzogen.
Mahad war fast zwölf und ich zehn Jahre alt, als wir nach Kenia kamen. Unseren Vater sahen wir kaum. Er ging nach dem Morgengebet bei Sonnenaufgang aus dem Haus und kehrte selten zurück, bevor wir alle wieder im Bett waren. Manchmal war er eine ganze Woche lang unterwegs. Seine Beziehung zu Mahad verschlechterte sich weiter, noch schlechter war nur seine Beziehung zu Ma.
Abeh wollte, dass wir alle die Nairobi Muslim Girls Primary School besuchten – trotz des Namens war die Grundschulabteilung dieser Schule gemischt. Sie kostete enorm viel Geld, und man musste eine Zulassungsprüfung und ein Auswahlgespräch bestehen, um aufgenommen zu werden. Abeh brachte uns alle zur Prüfung. Nur Mahad bestand. Er bekam nicht nur hervorragende Noten, sondern auch noch ein besonderes Lob für sein Verhalten in dem Gespräch. Haweya sagte man, sie sei vielversprechend und dürfe im nächsten Jahr die Prüfung wiederholen. Ich versagte vollkommen und hatte schlechte Noten in allen Fächern. An dem Morgen, an dem wir die Ergebnisse bekamen, gab mir meine Mutter einen Klaps auf den Kopf und beschimpfte mich mit den Beleidigungen, an die ich mich schon lange gewöhnt hatte. Doch Abehs Verhalten mir gegenüber änderte sich nicht. Er umarmte mich, streichelte mich, er nannte
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