Ich bin eine Nomadin
mich seinen »einzigen Sohn«. Er spielte Schach mit Haweya und mir. Er fuhr mit uns Boot. Und ebenso wenig veränderte sich sein Verhalten Mahad gegenüber. Ihm sagte er, er habe die Prüfung gut gemacht, aber er hätte noch besser sein können. Nach Meinung meines Vaters stand Mahad nicht richtig da, schaute sein Gegenüber im Gespräch nicht richtig an, hielt seinen Stift nicht richtig. Nichts, was Mahad tat, war Abehs Sohnes würdig.
Abeh ging jetzt öfter für längere Zeit nach Äthiopien. Wenn er einmal bei uns war, was selten genug vorkam, fing er sofort damit an, Mahad zu erklären, er müsse der Mann im Haus sein. »Du trägst die Verantwortung. Deine Schwestern werden bald Frauen sein. Wenn sie Schande über die Familie bringen, bist du dafür verantwortlich. Sie werden dir deine Ehre nehmen. Wenn deine Mutter sich auch nur einmal nachts unglücklich im Bett wälzt, bist du dafür verantwortlich. Sei für sie da. Hör ihr zu. Gehorche ihr. Mach ihr keinen unnötigen Ärger.« Mahad nickte und nickte und nickte. Wenn er nicht verstand, was mein Vater von ihm wollte, sagte er es jedenfalls nicht. Wenn er es unfair fand, dass Vater gewaltige, erwachsene Dinge von ihm forderte, sagte er es nicht. Er nickte einfach immerzu und sagte: »Ja, Abeh. Ja, Abeh. Ja, Abeh.« Mein Vater zwang Mahad, bei diesen Gesprächen eine Art Habachtstellung einzunehmen: die Füße schulterweit auseinander, die Hände ruhig vor dem Körper gefaltet, die Augen nach oben, den Blick starr zwischen Abehs Augen gerichtet. Mir war nicht klar, ob Mahad überhaupt registrierte, was Vater von ihm wollte. Jedes Mal, wenn wir Abeh sahen, drillte er Mahad so. Nach einem letzten, schrecklichen Streit mit meiner Mutter kehrte Abeh schließlich ganz nach Äthiopien zurück. Mahad war da fast dreizehn.
Abeh blieb zehn Jahre weg. Nachdem er gegangen war, wurde noch viel deutlicher, welche Schwierigkeiten es Mahad bereitete, sich einer Autorität unterzuordnen. Einmal kam er tief in finstere Gedanken versunken nach Hause, mit hängendem Kopf, Steine vor sich her kickend. Er warf sich mit weit ausgebreiteten Armen und Beinen auf die Matratze – was meine Großmutter, die mit uns in Kenia lebte, überaus respektlos fand. Sie jagte ihn von der Matratze hoch. Er verzog sich in eine Ecke, holte einen Roman hervor und begann zu lesen. Auf dem Umschlag des Romans war eine langhaarige weiße Frau im Bikini mit weit geöffneten Beinen zu sehen; ein Mann, ebenfalls weiß, hielt ihr Gesicht und schaute ihr tief in die Augen. Dieses Bild regte meine Großmutter noch mehr auf – laut schreiend suchte sie meine Mutter.
Nachdem Abeh weg war, wurden die Streitereien zwischen Mahad und Mutter oder Großmutter zu einem festen Bestandteil unseres Lebens, so lästig und unvermeidbar wie der Staub in den Straßen von Nairobi.
Nach dem üblichen Geschimpfe und Geschrei bot Mutter Mahad etwas zu essen an, doch er wollte nichts.
Ma: »Was ist los? Was ist passiert?«
Mahad: »Ich glaube, sie werfen mich von der Schule.«
Ma: »Warum? Was hast du getan?«
Mahad: »Ich habe in der Matheprüfung siebenundneunzig Prozent geschafft.«
Ma: »Na, sie werden dich doch sicher nicht gleich von der Schule werfen, weil du nur siebenundneunzig Prozent hast, oder? Du hast doch früher schon viel schlechter abgeschnitten.«
Ma hatte keine Ahnung, was Schulnoten bedeuteten. In ihren Augen war jeder Fehler ein Fehler zu viel.
Mahad: »Diesmal ist es was anderes. Ich habe die Schule angezündet.«
Ma warf mit ihre Schuhe nach ihm. Sie rief ihre Vorfahren an. Sie beklagte ihr Schicksal. »Dein Vater hat mich verlassen! Mögen die Ahnen ihn verfluchen! Mögen sie dich verfluchen! Möge Allah dich lähmen!« Sie griff nach dem Teller mit Essen, das sie Mahad hatte aufdrängen wollen, und schleuderte ihn quer durchs Zimmer. Schon beim Zuschauen graute mir von dem Dreck, den ich später würde beseitigen müssen. Aber gleichzeitig war ich auch entzückt von der Vorstellung, die Schule anzuzünden. Was war das wohl für ein Gefühl? Was war das für ein Gefühl, von der Schule zu fliegen? Eigentlich war es wohl das Furchtbarste, was überhaupt passieren konnte, fand ich. Meine Ohren brannten darauf, mehr zu hören. Doch jenseits des ganzen Theaters wusste ich auch, dass ich etwas sehr Tragisches miterlebte. Unsere Mutter hatte keine Macht mehr über Mahad. Abeh war weg, und wenn dieser Rausschmiss bedeutete, dass Mahad gar nicht mehr zur Schule ging, dann würde er auf der Straße
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