Ich bin eine Nomadin
aufwachsen wie ein Vagabund.
Ma suchte ihre Schuhe wieder zusammen und ging los, um die Verwandten zusammenzutrommeln. In den nächsten Wochen sprachen sie mit den Schulbehörden und sammelten Geld, um das Klassenzimmer zu bezahlen, das Mahad in Brand gesteckt hatte. Mahad durfte nicht mehr zum Unterricht erscheinen, doch das ganze Gerede und die Bestechungsgelder führten zu einem Kompromiss: Er bekam die Erlaubnis, die Abschlussprüfung mitzumachen, mit der er den Übergang an eine gute Sekundarschule schaffen konnte.
Nachdem sich die Wut und die Enttäuschung meiner Mutter über den Zwischenfall einigermaßen gelegt hatten, wurde auch klar, warum Mahad die Schule angezündet hatte. Seine Mathematiklehrerin hatte eine Übungsklausur zur Vorbereitung auf die Abschlussprüfung angesetzt. Diese Lehrerin hatte schon viele Gefechte mit Mahad ausgetragen. Er hörte ihr einfach nicht zu. Er redete im Unterricht; er war aufsässig und respektlos. Als er seine Übungsklausur zurückbekam und feststellte, dass er nur 67 Prozent erreicht hatte, ging er zum Pult und verlangte, sie solle seine Note korrigieren. Die Lehrerin schickte ihn weg. Mahad bestand darauf, ihr zu zeigen, dass seine Rechnungen richtig waren. Sie weigerte sich, einen Blick darauf zu werfen, und befahl ihm, sich zu setzen. Er ging zu seinem Lieblingslehrer, einem sehr angesehenen Mann; der schaute sich die Zahlen an und bestätigte Mahad, dass er tatsächlich 97 Prozent des Tests richtig hatte. Mahad ging zur Schulleiterin und zeigte ihr die Diskrepanz zwischen seinen Zahlen und der Note. Einen Tag später kam die Schulleiterin zu ihm und erklärte ihm: »Ich kann hier nicht eingreifen. Du musst das mit deiner Lehrerin klären.«
Mahad sprach also noch einmal mit seiner Lehrerin, doch die beschimpfte ihn als respektlos und ungehorsam und schickte ihn wieder weg. Daraufhin tat er sich mit einem anderen Schüler zusammen, der genau wie Mahad Probleme mit Autoritäten im Allgemeinen hatte und vor allem darunter litt, dass eine Frau ihn so herumkommandieren durfte. Eines Tages brachen sie nach dem Unterricht den Schrank der Lehrerin in ihrem Klassenzimmer auf und zündeten alle Klausuren an.
Bei seinen Prüfungen zum Abschluss der Primarschule gelang Mahad wieder einmal ein intellektuelles Wunder. Tausende kenianische Kinder legten diese Prüfung ab, und obwohl Mahad erst seit zwei Jahren Englisch sprach – und drei Monate lang weder zur Schule gegangen war noch Hausaufgaben gemacht hatte –, war er unter den zehn besten Schülern des Landes.
Weil Mahad so gute Prüfungsergebnisse hatte, bewarb er sich bei den besten Schulen und bekam von den meisten auch eine Zusage. Meine Mutter entschied sich für das Starehe Boys Center and School. Diese Schule hatte ein Engländer für Straßenkinder gegründet, doch um die laufenden Kosten zu decken, wurden auch kluge Kinder aus reichen Familien aufgenommen. Kinder wie Mahad, die aus armen Familien kamen, mussten nicht so hohe Schulgebühren bezahlen, wenn sie sehr gute Noten hatten.
Alle unsere Verwandten, meine Mutter und unsere Prediger hämmerten Mahad immer wieder ein: Was auch geschieht, gib unsere Kultur und die ruhmreichen, jahrtausendealten Bräuche unserer Vorväter nicht auf. Inzwischen »afrikanisierte« die kenianische Schulbehörde den Lehrplan. Mahads Lektüreliste sah plötzlich ganz anders aus – statt englischer Klassiker wie Dickens und Trollope fanden sich dort jetzt afrikanische Autoren wie Chinua Achebe. Diese Schriftsteller waren ganz besessen davon, wie übel der britische Kolonialismus doch ihren Vorfahren mitgespielt und deren Leben zerstört hatte. Die Ironie dabei war nur, dass Mahad über Achebes Stamm und die alten Sitten und Gebräuche auf Englisch las – in der Sprache des imperialistischen Unterdrückers, den wir doch eigentlich verdammen sollten. Mahad bekam in Englisch regelmäßig Bestnoten. Er lernte, eine Schuluniform (mit Krawatte) zu tragen, den älteren Schülern zu gehorchen, Kricket und Schlagball – ausländische Sportarten – zu spielen. Alles, was er tat – hervorragend tat –, brachte ihm größtes Lob für seine Leistungen ein und gleichzeitig paradoxerweise größte Verachtung, weil er seine Stammesbräuche und religiösen Lehren verriet.
Anfangs war Mahad Tagesschüler, doch weil er immer zu spät kam, beschloss unsere Mutter zusammen mit dem Schulleiter, ihn im Internat unterzubringen. Das bedeutete allerdings, dass er tagelang die Schule schwänzen konnte,
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