Ich bin eine Nomadin
während meine Mutter glaubte, er sei im Unterricht. Den Lehrern fiel zunächst gar nicht auf, dass er fehlte. Er hatte sich mit ein paar anderen Jungs angefreundet, die auch schwänzten. Ich hörte nie, dass sie etwas Schlimmes anstellten. Wahrscheinlich hingen sie einfach nur herum, redeten über Mädchen und überlegten, wie sie in die Diskotheken hineinkommen könnten. Gleichzeitig beschimpfte Mahad Haweya und mich zu Hause und hielt uns lange Vorträge: Wir müssten unsere moralischen Grundsätze strikt befolgen. Wir müssten unsere Jungfräulichkeit bewahren. Als wir ihn fragten, warum er denn seine Zeit mit Mädchen ohne moralische Grundsätze verbringe, sagte er: »Es ist, wie es ist. Manche Mädchen sind schlecht, damit wir Männer uns mit ihnen amüsieren können. Manche Mädchen sind ehrbar, und die bekommen einen Ehemann.«
Ma verlangte drei Dinge von Mahad. Erstens sollte er ihr helfen, Haweya und mich zur Räson zu bringen. Diese Zusammenarbeit bestand vor allem darin, dass sie uns festbanden und schlugen. Ich hasste ihn für den Schmerz, den er mir zufügte, aber noch schlimmer war es, zuzusehen, wie er Haweya wehtat. Haweya wurde immer dafür bestraft, dass sie aus dem Haus ging, abends lange Romane las und zu spät von der Schule nach Hause kam. Als sie älter wurde, zeigte sie außerdem ein gewisses Interesse an Diskotheken. Ma schickte Mahad los, damit er sie aufstöberte und nach Hause brachte, wo er sie als Hure beschimpfte, festband und schlug. Ich wurde bestraft, weil ich die Hausarbeit vernachlässigte – das Kochen, Putzen, Aufräumen, Wäschewaschen und Einkaufen. Und ich wurde bestraft, weil ich Großmutter ärgerte. Ich lernte ihre Flüche und ihr Gejammer auswendig und stellte mich vor sie hin, wackelte mit dem Hintern, machte sie nach und wiederholte ihre Sprüche. Außerdem trieb ich mich mit meinen Schulfreundinnen herum, kam zu spät nach Hause und log dann, ich sei in der Moschee gewesen.
Zweitens wollte Ma, dass Mahad weiter zur Schule ging. Sie erklärte ihm, das Schlimmste, was ihr passieren könne, sei, dass er die Schule abbreche. Dann habe sie als Mutter und als Frau total versagt. Nur seine Zukunft war wichtig – nicht ihre und ganz sicher nicht Haweyas oder meine. Sie versuchte Mahad zu verwöhnen, kochte ihm gutes Essen und bestach ihn manchmal mit ein bisschen Geld. Leider nützte alles nichts. Mahad schwänzte so oft den Unterricht, dass der Schulleiter Ma einbestellte und ihr erklärte, er habe keine andere Wahl, als ihn von der Schule zu werfen.
Von da an verbrachte Ma Tage und Nächte auf der Suche nach Mahad in irgendwelchen dunklen Gassen. Sie klopfte bei Jungen, von denen sie glaubte, sie seien seine Freunde, und fragte nach ihrem Sohn. Manchmal rief sie ihre männlichen somalischen Verwandten zu Hilfe. Tagelang suchten wir nur nach Mahad. Wenn er schließlich nach langem Hin und Her wieder auftauchte, schob Ma ihn ins Haus und brachte riesige Vorhängeschlösser an der Haustür an, damit er nicht wieder verschwinden konnte. Doch sobald sie einmal nicht aufpasste, kletterte er über die Mauer, trotz der Glasscherben, die dort eingemauert waren, um Diebe fernzuhalten.
Einmal erwischte Ma ihn in unserer Auffahrt, als er sich gerade davonstehlen wollte. Sie stürzte sich auf ihn. Mahad, jetzt fünfzehn und fast schon ein Mann, wollte sich von ihr losreißen. Ma fiel zu Boden, klammerte sich an seinen Knöchel, machte ein gewaltiges Theater und schrie aus Leibeskräften – sie wollte ihn einfach nicht loslassen. Die Nachbarn ließen sich so ein Schauspiel natürlich nicht entgehen – peinlich berührt gab Mahad schließlich auf und kam ins Haus zurück. Dort blieb er, solange Ma Wache hielt, doch ein paar Tage später war er wieder weg.
Drittens verlangte Ma von Mahad, er solle fromm sein: den Koran lesen, beten und eines Tages vielleicht sogar ein Prediger werden. Mich sprachen gerade die Lehren von Schwester Aziza an, die an meiner Schule Islamunterricht gab. Ich bedeckte mich mit dem Hidschab und betete häufiger. Wenn ich heute zurückblicke, wird mir klar, dass ich langsam, aber sicher die Ziele der Muslimbruderschaft, einer fundamentalistischen Bewegung, akzeptierte. Mahad dagegen erlag eher den Verlockungen der Straße. Er wurde Kettenraucher. Wie man hörte, trank er Bier und vielleicht sogar Schnaps. Damals kannte ich den Unterschied noch nicht. Es gab auch Gerüchte, dass er qat kaute.
Alle wussten, dass Jungen wie Mahad, die von der Schule geflogen
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