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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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meinen Vater verraten und seine Ehre befleckt hatte oder weil ich meine Mutter in eine Lage gebracht hatte, in der sie für das, was ich getan hatte, verantwortlich gemacht wurde. Ich hatte nicht mehr wie früher dieses ständige schlechte Gewissen wegen all der Dinge, die ich für meine Familie hätte tun können in jenen Jahren des zornigen Schweigens, als ich meinen Clan verlassen hatte und in eine freie, aufgeklärte und wohlhabende Gesellschaft geflüchtet war, in eine neue Welt, in der zu überleben ich inzwischen gelernt hatte.
    Jetzt entsprangen meine Schuldgefühle einer neuen Empfindung, dass ich diese Überlebenswerkzeuge mit meinen engsten Familienangehörigen hätte teilen sollen. Statt meine Cousinen links liegen zu lassen, hätte ich sie öfter anrufen sollen. Wenn ich zu Hiran und Ladan Kontakt gehalten hätte, hätte ich ihnen vielleicht helfen können, ihre von Religion und Clangesetzen geprägten Überzeugungen abzulegen – sich zum Beispiel mit Verhütungsmitteln zu beschäftigen und sich ihrer Sexualität zu stellen, statt (sogar sich selbst gegenüber) so zu tun, als ob sie gar nicht mit Männern schliefen und sich deshalb auch nicht schützen müssten.
    Ich hatte egoistisch gehandelt, aber nicht aus bösem Willen, sondern weil ich mich entschieden hatte, mein Leben zu verbessern und das Glück auf meine Art zu suchen. Ich hatte sie verraten, weil ich mir durchaus bewusst war, dass ich, indem ich meine persönlichen Ziele verfolgte, uralte Familientraditionen ebenso missachtete wie religiöse Gesetze.
    An einem Abend etwa drei Monate nach dem Tod meines Vaters und nach Gesprächen mit meiner Mutter und Magool traf ich mich zum Abendessen mit einem amerikanischen Paar, mit dem ich eng befreundet war.
    Ich grübelte laut darüber nach, warum es meiner Familie so schlecht ging, und wir sprachen über die Bücher von Edward Banfield, der behauptet hat, dass der fest nach innen gerichtete Blick traditioneller Gesellschaften ihre Mitglieder davon abhält, in der modernen Welt voranzukommen, weil er sie daran hindert, Beziehungen außerhalb des Clans zu knüpfen.
    Nachher fragte ich mich: Was an unserer somalischen Kultur bremst uns eigentlich so? Vielleicht liegt es auch daran, dass wir eigentlich gar keine nennenswerte Kultur mehr haben. Es gibt keine somalischen Historiker, nur wenige Schriftsteller, höchstens, wenn überhaupt, eine Handvoll Künstler. Die alte Lebensordnung ist zerbrochen, und die neue ist nur von Gewalt und Chaos geprägt. Als Stamm sind wir zerrissen, als Clans in alle Welt zerstreut, als Familien dysfunktional.

    Vorsichtig versuchte ich, mich wieder mit meiner Familie zu versöhnen, und doch spürte ich die Entfremdung mit jeder wieder aufgenommenen Beziehung immer deutlicher, dazu die Trauer darüber, wie tief und schnell unsere Familie gesunken war. Haweya: nicht mehr da. Mahad: ein Schatten seiner selbst. Ladan: gescheitert. Meine Halbschwester Sahra, die sich der Moderne verweigert: lebendig begraben hinter ihrem Schleier. Ladan setzte, ohne die Unmengen von Büchern, Videos und DVDs zum Thema Elternschaft überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, jetzt bald ein weiteres Kind in die Welt, ungeachtet all der Gefahren, denen sie ihre Tochter durch ihre Abhängigkeit und Armut auslieferte. Und mein pflichtbewusster Cousin Hassan finanzierte mit seinem Geld Menschen, die überholten Werten anhingen.
    Ich wollte Hassan zurufen: »Spar dein Geld, kauf ein Haus, mach eine Ausbildung, vor allem aber: Überdenke die Werte unserer Großmutter noch einmal und bring deinen Kindern eine neue Moral bei. Hilf ihnen, die Werkzeuge zu entwickeln, mit denen sie in Amerika aufsteigen können. Unsere Großmutter war diszipliniert und resolut, doch ihre Lektionen über Traditionen und Blutlinien sind in dieser für uns neuen Landschaft keine Wegweiser mehr. Wenn wir versuchen, an ihnen festzuhalten, werden wir zerbrechen, denn die alte Lebensweise ist gescheitert. Selbst Somalis können sich die Werte einer liberalen Demokratie aneignen.«
    Als ich eines Abends wieder einmal das Foto meiner Großmutter über dem Kamin in meiner Wohnung anstarrte, fiel mir ihre erste Reise ein, die sie aus dem Land ihrer Vorfahren geführt hatte. Sie muss um die vierzig Jahre alt gewesen sein, als sie von der Hafenstadt Berbera in Somalia aus in einem kleinen Boot das Rote Meer in Richtung Aden überquerte. Die dritte, junge Frau ihres Ehemannes hatte gerade ihren zweiten Sohn geboren. Scham und Eifersucht brannten

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