Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
Vom Netzwerk:
in ihr und trieben sie aus der Wüste, mit ihrer jüngsten Tochter, die noch nicht verheiratet war.
    Ich stellte mir vor, wie sie sich wohl gefühlt hatte: ängstlich vielleicht, aber auch berauscht von den Wellen und der Herausforderung, dem Reiz des Unbekannten. Vielleicht wünschte sie sich heimlich, der Eintönigkeit des Nomadenlebens zu entkommen – eines oft sehr kurzen Lebens, bedroht von Naturkatastrophen und Krieg.
    Meine Großmutter sprach viel mit den Toten. Sie redete mit unseren Vorvätern und sprach sie mit Namen an. Oft mahnte sie uns, sie nicht zu verärgern, nicht ihren Zorn zu erregen. Als ich nun so auf ihr Foto starrte, wurde mir klar, dass ich meine Ahnen nicht mehr fürchtete, und ich staunte darüber. Ich schaute ihr in die dunklen, durchdringenden Augen voller Verurteilung und Anklage, und im Geiste sprach ich mit meiner Großmutter.
    Und weil die Tatsache, dass ich lesen und schreiben kann, mir das unfehlbare Gedächtnis meiner Großmutter geraubt hat, tat ich das, was ich bei wichtigen Dingen immer tue: Ich zog das Notizbuch heraus.
    Anfangs waren es Bruchstücke, teils auf Englisch, teils auf Somali. Der Text hatte keine bewusste Struktur, es war kein Artikel oder Manuskript. Ich hatte keine klare Vorstellung davon, dass das, was ich da schrieb, ein formeller Abschied war – ich sagte mich von allen Familienbanden los, die ich jemals gekannt hatte, und von allem, was mein Clan, mein Stamm, meine Religion und meine Kultur mir je gegeben hatten. Doch allmählich dämmerte mir, dass ich genau wie sie mit meinen Vorfahren sprach. Ich schrieb meiner Großmutter einen Brief.

Kapitel sieben
BRIEF AN MEINE GROSSMUTTER
    Liebe Großmutter,
    ich beklage Deinen Tod nicht.
    Du warst bereit, zu gehen. Du hast Deine Vorväter gebeten, Dich zu holen, hat Ma gesagt. Deine Beine wollten Dich nicht mehr tragen. Deine Gelenke waren steif. Waren sie gestreckt, schmerzte es, wenn Du sie beugtest; waren sie eine Weile gebeugt, ließen sie sich nicht mehr strecken. Sie knackten bei jeder Anstrengung. Vom Sitzen und vom Liegen taten Dir die Seiten und der Rücken weh. Die Haut legte sich in Falten, die sich schwer reinigen ließen, und da sich der Schweiß darin sammelte, juckte es. Deine wunderschönen schlanken Finger verkrümmten sich wie knorrige Zweige. Wenn Du Dich jucken wolltest, kratzten Dir die Fingernägel die Haut auf. Die Ohren versagten ihren Dienst, die Augen wollten nichts mehr sehen. Deine Töchter und Enkelinnen haben Dich getröstet, so gut sie es vermochten, aber sie konnte die Schmerzen, die das hohe Alter mit sich bringt, nicht lindern.
    Ich beklage Deinen Tod nicht, doch mich plagen Schuldgefühle: Ich wünschte, ich hätte auch für Dich da sein können. Du hast mich als Kind in den Arm genommen, wenn mir etwas wehtat. Du hast mir tröstende Worte ins Ohr geflüstert, wenn mich das Fieber schüttelte, das den noch jungen Körper ohne Abwehrkräfte befällt. Du hast Deine Vorväter um Beistand für mich gebeten. Du hast mich ermahnt, nicht aufzugeben. Du hast mich zum Medizinmann gebracht, der Dein Geld und Deine Schafe nahm, einen glühenden Schmiedenagel in die Zange klemmte und mir Brandmale in die Brust brannte. Das tat mehr weh als das Fieber, Großmutter, und ich trage noch heute die Narben. Sie sind ein Symbol Deiner Liebe für mich. Nicht der Medizinmann, sondern Du brachtest mich dazu, die Dämonen in meinem Blut zu bekämpfen und wieder gesund zu werden.
    Es tut mir leid, Großmutter, dass ich im Alter nicht für Dich da war, wie Du in meiner Kindheit für mich da warst. Ich hätte die Geister meiner neuen Welt beschworen. Hier gibt es Salben, mit denen man die Hautfalten reinigen und den Juckreiz lindern kann. Es gibt Hörgeräte. Es gibt Spazierstöcke auf Rädern, mit denen man mühelos gehen kann. Es gibt diese und viele andere Hilfen, auch Schmerzmittel. Es tut mir leid, Großmutter, dass ich Dich im Stich gelassen habe, als ich Dir im Alter hätte Trost spenden können.
    Ich lebe seit fast zwei Jahrzehnten bei den Ungläubigen, habe ihre Lebensweise kennen und schätzen gelernt und sie übernommen. Vater wollte mich vor seinem Tod zur Umkehr bewegen, und auch Ma versucht das jedes Mal, wenn wir miteinander telefonieren. Ich glaube, auch Du würdest mich wie meine Eltern ermahnen, die Traditionen unserer Väter und Vorfahren zu ehren. Aber ich habe so ein merkwürdiges Gefühl, dass Du, Großmama, meine Haltung mit der Zeit verstehen würdest.
    Trotzdem beklage ich Deinen

Weitere Kostenlose Bücher