Ich bin eine Nomadin
Sie forderte hysterisch, der Arzt solle einen zweiten und einen dritten Test machen. Doch alle Tests über drei Wochen hinweg zeigten, dass sie schwanger war, und ihre Periode war ausgeblieben. Als sie sich schließlich damit abfand, dass sie wirklich schwanger war – dass sie wirklich mit jemandem geschlafen hatte –, bot der Arzt ihr eine Abtreibung an. Als dieses Wort fiel – das auf Somali weniger technisch klingt und »das Baby herausziehen« oder »herausspülen« bedeutet –, schluchzte sie auf. Sie beschimpfte sich selbst als Sünderin und Hure und schrie, dass sie es verdiene, ausgepeitscht und gesteinigt zu werden, denn jetzt habe sie keinen Platz im Himmel mehr. Dann erklärte sie dem Arzt, sie könne sich nicht durch den Mord an einem unschuldigen Kind noch weiter versündigen, und beschloss, das Baby zu bekommen, obwohl sie wusste, dass ihre Verwandten sie als Hure beschimpfen würden und das Kind auf ewig als wa'al gebrandmarkt wäre.
So tragische Schicksale erleiden vor allem Mädchen und Frauen, die aufgrund ihrer einengenden Erziehung und Kultur ihr körperliches Begehren nicht einmal sich selbst gegenüber eingestehen können. Aber diese Haltung beschränkt sich nicht nur auf Frauen. Oft übersetzte ich am Telefon – in solchen Fällen nie persönlich – für somalische Männer, die in einen HIV-Bluttest eingewilligt hatten. Ich hörte den holländischen Arzt jene furchtbaren drei Worte sagen – »Sie sind seropositiv« –, und die kleinen Rädchen in meinem Kopf begannen zu rotieren, um dafür eine Umschreibung auf Somali zu finden.
Beim ersten Mal gestand ich mein Unvermögen. Ich erklärte dem Arzt: »Wir haben kein Wort für ›seropositiv‹ in Somali. Wie kann ich es am besten umschreiben?«
Er antwortete: »Der Bluttest zeigt, dass Sie ein Virus in Ihrem Immunsystem haben.«
Angestrengt suchte ich nach einem Wort auf Somali für »Immunsystem« – oder auch nur für »Virus« – und erklärte dem Mann schließlich: »Bei Ihrem Bluttest hat man unsichtbare Lebewesen gefunden, die langsam die Verteidigungsarmee in Ihrem Blut zerstören werden.«
Dann führte ich aus, dass das Blut aus weißen und roten Blutkörperchen – auch hier fehlte mir das richtige Wort – bestehe. »Die weißen Blutkörperchen bilden ein Heer, das die Feinde fernhält, die in Ihren Körper eindringen und ihn krank machen wollen. Doch manche Dinge, wie etwa das, was man in Ihrem Blut gefunden hat, sind ohne die Hilfe der Medizin stärker als Ihre Soldaten.«
Meine Erklärung dauerte eine ganze Weile. Der holländische Arzt unterbrach mich. »Ist das alles nötig?«
Ich erklärte ihm: »Es gibt keine Wörter für ›seropositiv‹, ›weiße Blutkörperchen‹, ›rote Blutkörperchen‹, ›Viren‹, ›Bakterien‹ oder ›AIDS‹ auf Somali«.
Der Somali schrie plötzlich alarmiert auf: »AIDS?«
Er sprach es aydis aus. »Aydis?! Das habe ich nicht! Ich bin ein Muslim! Und ich bin ein Somali! Wir kriegen kein Aydis!«
Durcheinander und verlegen, aber doch erleichtert, dass mein Klient mich verstand, hielt ich mich an dem Wort Aydis fest und sagte ihm: »Doch, sie haben in Ihrem Blut das gefunden, was später macht, dass Sie Aydis bekommen. Aber Sie haben es jetzt nicht. Noch nicht.«
Der Arzt unterbrach mich wieder: »Er hat jetzt kein AIDS. Er ist nur seropositiv. Wir können ihm Medikamente geben, um zu verhindern, dass das HI-Virus zu AIDS wird.«
Der Somali brüllte dazwischen: »Aydis! Sagen Sie ihm, dass ich kein Aydis habe! Muslime haben kein Aydis!«
Solche Gespräche hatte ich dann noch mehrmals durchzustehen. Und jetzt stellte ich mir meine Cousine Hiran im Jahr 2003 vor, die dasselbe durchmachen musste – die, egal, mit welchen Worten man es ihr nahebrachte, immer nur hörte: Du wirst sterben, und das, woran du stirbst, ist eine Folge der Sünde, der Hurerei, der Verleugnung der Gesetze Allahs.
Viele Patienten, die schließlich akzeptieren mussten, dass sie tatsächlich »Aydis« hatten oder etwas, das eines Tages zu Aydis führen würde, begriffen die Krankheit als Strafe Allahs, als eine Art Auspeitschung und Steinigung. Oft verweigerten sie die Behandlung, denn sie wollten ihre ursprüngliche Sünde nicht noch steigern, indem sie sich Allahs Richtspruch widersetzten. Andere leugneten ihre Krankheit standhaft, schliefen weiter mit anderen, selbst mit ihren ahnungslosen Ehepartnern, und gaben das Virus weiter.
Ich verstand die Reaktion meiner Cousine durchaus. Islam und
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