Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
Vom Netzwerk:
Aufklärung gründen. Einwanderer aus traditionellen Gesellschaften, in denen seit Jahrhunderten die Abstammungslinien und Clan- und Stammeswerte herrschten, vollziehen den körperlichen Übergang in den Westen innerhalb weniger Stunden. Oft treibt sie die Sehnsucht nach einem besseren Leben, nachdem die Heimat zu einem hässlichen, abweisenden Ort geworden ist. Doch die Einwanderer aus der Stammeskultur und die Aktivisten in der reichen Welt geben sich der gleichen Selbsttäuschung hin: Sie glauben, man könne diesen Schritt machen, ohne sich für bestimmte Werte entscheiden zu müssen. Die eine Seite möchte, dass sich ihre Lebensverhältnisse verbessern, will aber ihre Traditionen nicht aufgeben; die andere, überwältigt von Schuldgefühlen und Mitleid, will bei materiellen Veränderungen helfen, kann sich aber nicht zu der Forderung an die Neuankömmlinge durchringen, traditionelle, veraltete Werte aufzugeben.
    Ladan, Hiran, Hassan und Anab haben es wie ich geschafft, in den Westen zu kommen, mit großen persönlichen Hoffnungen auf ein besseres Leben und, zumindest in Hassans Fall, mit der zusätzlichen Hoffnung auf ein besseres Leben für seinen Vater, seine Tante, unsere Onkel, meine Mutter und eine ganze Schar von Geschwistern, Cousins und Cousinen. Wir waren belastbar und einfallsreich; wir waren Überlebende, in Anabs Fall sogar Krieger. Anders als ich genossen die anderen die Bewunderung des Clans. Doch weil sie sich ihre Einstellung zu den Kernthemen Sex, Geld und Gewalt nicht klargemacht hatten – weil sie nicht erkannten, dass sich mit ihrem Wohnort auch ihr Denken ändern musste –, steuerten sie auf Krankheit, Verschuldung und Tod zu. Auch ich war schlecht auf den Westen vorbereitet. Der einzige Unterschied zwischen meinen Verwandten und mir liegt darin, dass ich mich dem Neuen unvoreingenommen gestellt habe.
    Ladan und Hiran wuchsen in Familien auf, die einem Clan von Händlern und Kaufleuten entstammten. Sie wurden nicht von einem Ort zum anderen geschoben wie Mahad, Haweya und ich. Ihre Familien hatten internationale Geschäftsbeziehungen gepflegt und zu den reichsten in Somalia gehört. Wegen ihres Reichtums und ihrer Verbindungen in fremde Länder konnten sie sich die technischen Spielereien der Moderne leisten. Die Mädchen hatten natürlich ein Auto, Fernsehen, Video und andere moderne Geräte besessen.
    Die Kreise, in denen sie in Mogadischu verkehrten, folgten westlichen Moden und posaunten (fast zu laut, als dass man ihnen glauben mochte) ihre westliche Einstellung heraus. Vor allem Ladan verbrachte ihre Teenagerjahre mit weiblichen Rollenmodellen, die Valentino, Armani, Prada, Gucci und Chanel besser kannten als die Suren des Korans oder die Aussprüche des Propheten. Sie wetteiferten erbittert darum, wer sexier aussah, denn in der westlichen Mode geht es darum, den weiblichen Körper zur Schau zu stellen. Ladan und Hiran trugen Make-up, steckten sich das Haar hoch und trafen sich sogar mit Jungen. Doch sie waren nur äußerlich modern. Ihre Väter, beide sehr erfolgreich und sparsam, brachten es nicht fertig, ihre Töchter zu lehren, wie man Geld verdient, geschweige denn, wie man spart oder investiert. Trotz ihres scheinbar problemlosen Umgangs mit den Symbolen eines westlichen Lebensstils entwickelten Ladan und Hiran keine stabile Identität, keinen zupackenden, sinnvollen Umgang mit den Wechselfällen des Lebens.
    Im Westen ist man oft der Ansicht, dass Menschen, die nicht aus dem Westen kommen, aber in großen Städten mit Geld und kulturellen Verbindungen zu westlichen Ländern aufgewachsen sind, besser auf das Leben in modernen Gesellschaften vorbereitet seien. Ladan und Hiran jedoch wuchsen ohne konsistentes Wertesystem auf, weder mit einem islamischen noch mit einem westlichen. Sie wirkten modern; sie erträumten sich und spielten die Rolle der westlichen Frau, aber sie waren nicht in der westlichen Sexualmoral verankert. Sie gaben sich ihren Begierden hin, als ob sie wirklich junge Leute aus dem Westen wären, aber sie entkamen der Kultur des Schande nicht. Sie vergruben ihr Schamgefühl unter raffiniert ausgetüftelter Heimlichtuerei und Heuchelei, sogar vor sich selbst verbargen sie die schlichte Tatsache, dass sie Sex hatten.

    Alles, was Magool mir über die Probleme meiner Familie erzählte, weckte noch einmal Schuldgefühle und Bedauern in mir, doch es waren nicht dieselben Schuldgefühle wie bei meiner Flucht vor der arrangierten Ehe, nicht dasselbe Bedauern, weil ich

Weitere Kostenlose Bücher