Ich bin eine Nomadin
Tod nicht.
Mit Dir sind die strengen Regeln der alten Sitten verschwunden. »Sprich mir nach: Ich bin Ayaan, Tochter des Hirsi, Sohn des Magan, Sohn des Guleid …« Mit Dir ist diese Blutlinie verschwunden und auch die idiotische Tradition, Pferdestuten und Kamelstuten höher zu schätzten als Töchter und Enkelinnen.
Wenn in der Familie ein Sohn zur Welt kam, hast Du Dich gefreut. Deine Augen haben feucht geschimmert, Du hast gelächelt, und voller Energie hast Du eine Unmenge Grasmatten gewebt und verschenkt. Während der Arbeit hast Du uns Kriegersagen erzählt, die von Mut, Widerstand und Eroberungen handelten und von sharaf, sharaf, sharaf. Ehre, Ehre und noch mal Ehre.
Wenn uns von der Geburt eines Mädchens in der Familie berichtet wurde, hast Du abschätzig geschnalzt, das Gesicht verzogen und manchmal tagelang geschmollt. Du hast in Mogadischu vor unserem Haus unter dem Talalbaum gekauert, auf der großen Strohmatte, die Hände orange vom Henna, und mit Deiner muda- Nadel gewebt. Du hast uns fortgeschickt und Unheil prophezeit. Und dann, nach Tagen des Schweigens, hast Du uns von den Tragödien und vom Unglück der Familien erzählt, in denen zu viele Mädchen zur Welt kommen – Klatsch, Verrat, uneheliche Kinder und a'yb, a'yb, a'yb. Schande, Schande und noch mal Schande.
Du hast geblinzelt und mit den Zähnen geknirscht und Grashalme in die Matten und Schalen gewebt, und Du hast geflucht, wenn das Muster nicht genau stimmte. Großmama, Du warst so sorgfältig, und uns hast Du dieselbe Sorgfalt gepredigt. »Hier, Mädchen, kehr den Staub weg. Schüttle die Matten aus. Geh die Ziegen melken. Mach Feuer. Hol Wasser. Wasch das Fleisch, schneide es, brate es. Verlies den Reis.« Ich höre noch heute Deine nicht enden wollenden Anweisungen. Statt des Abc hast Du uns beigebracht, die Blutlinie unseres Vaters auswendig zu lernen. Es würde Dich sicher traurig machen, sehr traurig, wenn Du wüsstest, dass jetzt nach Abehs Tod nur noch ein Sohn die Blutlinie fortführt, mein Bruder Mahad. Und obwohl Mahad über vierzig ist, hat er nur einen Sohn, Jacob, der zwei Wochen vor Haweyas Tod vor fast elf Jahren zur Welt kam.
Jacob kann die Kultur der Stammesältesten nicht mehr erlernen, denn was sie ihm beibringen würden, hat in der Zeit und an dem Ort, an dem er lebt, keine Gültigkeit mehr. Die Regeln der Ältesten kämen ihm noch widersinniger vor als mir damals.
Der Schatten des Talalbaums ist für mich weit weg. Wie unzählige unserer Verwandten und anderer Muslime habe ich mich im Land der Ungläubigen niedergelassen, für immer.
Ich tue mich schwer wie eh und je, Dir zu erklären, was ein Land eigentlich ist. Ich weiß noch, dass ich Dir in Nairobi, nach unserem Umzug nach Kariokor, den Schulatlas auf den Schoß gelegt habe. Du hast Haweya und mich gescholten, dass wir uns zu eng mit unseren kenianischen Mitschülerinnen anfreundeten – Du nanntest sie »Sklaven«. Ich habe Dir gesagt, wir müssten die Menschen, in deren Land wir leben, achten. Dich hat das Wort »Land« verwirrt, ebenso wie die Vorstellung, dass es ein »Land« namens Somalia geben sollte. Du hast gesagt, man könne doch von den stolzen Söhnen der großen Clans Isaq und Darod nicht verlangen, eine unsichtbare Linie zu akzeptieren, die sie nicht überschreiten dürften. Du hast den Atlas vom Schoß gestoßen und gesagt, die Ungläubigen brächten mit Tricks und magischen Illusionen wie diesen Bildern Menschen, die sie trennen wollten, dazu, idiotische Zäune und gedachte Grenzen hinzunehmen. Du hast uns angehalten, zuallererst und vor allem Gott und unserer Blutlinie gegenüber loyal zu sein.
Großmama, es gibt sie doch, die Länder. Aber was die Uneinigkeit der stolzen Söhne der Darod und der Isaq angeht, so hat Dich Dein Instinkt nicht getäuscht. Es gibt kein Somalia. Wir sind berühmt für Rechtlosigkeit und nackte Gewalt. Wir sind bekannt für Piraterie, für unseren religiösen Fanatismus und unsere Bereitschaft, völlig grundlos zu töten und zu sterben.
Muslime leben heute überall unter schwierigen Bedingungen. Die meisten muslimischen Länder werden mittels Gewalt und Drohungen regiert. Es gelingt ihnen nicht, gute Produkte und kluge Menschen hervorzubringen. In solchen Ländern gibt es keine Einheit, kein Streben nach einer besseren Zukunft.
Doch in den qurbe, den Ländern der weißen Ungläubigen, ist das anders. Hier stehen Flaggen für echte Einheit. Du hast mich gelehrt, Stärke zu bewundern, Ausschau zu halten nach
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