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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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Überlebensstrategien, die funktionieren. Großmama, die Überlebensstrategien der Ungläubigen funktionieren besser als unsere.
    Weißt Du noch, die Milchfrauen in Mogadischu, die stundenlang dahockten und zwischen den Beinen misslauniger Kühe an den Eutern herumquetschten, um möglichst viel Milch aus ihnen herauszuholen? Ich wünschte, Du wärst an dem Tag dabei gewesen, an dem ich in Holland den Bauernhof besuchte, auf dem Ellen, meine erste holländische Freundin, aufgewachsen war. Ihre Familie hatte weniger Kühe als die Milchfrauen der Hawiye, doch diese Kühe waren dicker und geduldiger. Wenn es Zeit zum Melken war, holte Ellens Bruder Schläuche von den Haken, ähnlich denen, durch die wir Wasser aus dem Vorratsfass in den Eimer leiteten. Er befestigte sie an den prallen Eutern der Kühe, die währenddessen in aller Ruhe weiter Heu fraßen. Dann legte er einen elektrischen Schalter um, der dem glich, mit dem wir in Saudi-Arabien die Lichter einschalteten. Und zu meiner Verblüffung saugten die Schläuche die süße Milch aus den dicken Eutern in die leeren Eimer. Nach einer Stunde hatte Ellens Bruder mehr Milch als sämtliche Frauen auf dem Markt von Hodan und Hawlwadag.
    Die Wunder in den Ländern der Ungläubigem beschränken sich nicht auf das Melken von Kühen. Ich erlebe ihre Lebensart aus erster Hand und glaube, wenn Du die Chance gehabt hättest, wie ich sie hatte, das zu beobachten, wärst Du froh und dankbar gewesen, einige ihrer Überlebenstricks zu lernen.
    Das Geheimnis des Erfolgs liegt bei den Holländern in ihrer Anpassungsfähigkeit und ihrem Erfindergeist. Sie lösen Probleme, indem sie die Natur ihren Wünschen unterordnen und nicht umgekehrt. In unserem Wertesystem, Großmama, sind wir alle wie die Schirmakazien und der Affenbrotbaum, wie Sonnenaufgang und Sonnenuntergang festgelegt in dem, wer oder was wir sind. Wir verneigen uns vor Gott, der uns sagt, wir dürften nichts verändern, weil Er alles so geregelt habe. Wenn unsere Leute von Oase zu Oase durch die Wüste zogen, legten sie keine Wasserstellen an, gestalteten Flüsse und Seen nicht nach ihrem Willen und bohrten auch keine Brunnen tief in die Erde.
    Großmutter, weißt Du noch, wie Du von Sool im Land der Dhulbahante über das Meer nach Jemen gereist bist? Du musst viele Tage zu Fuß unterwegs gewesen sein, in denen Du Dir überlegt hast, was Dich dort wohl erwarten würde. Vielleicht hast Du einem Mann mit einem Karren oder einem Lastwagen Geld gegeben, damit er Dich durch die Wüste zum Hafen von Berbera mitnimmt. Dann bist Du in einem kleinen Schiff übers Meer gefahren. Du bist in einer Zeitmaschine unterwegs gewesen. Du hast in einem magischen Boot gesessen, das Dich in ferne Lande brachte. Du wusstest es damals nicht, aber Du bist hundert Jahre in die Zukunft gereist.
    Dieses Abenteuer hast nicht nur Du erlebt. Tausende verließen damals ihre Hütten im Schatten der Schirmakazien, die Bäche, Brunnen und Oasen und mit ihnen ihre jahrtausendealte Lebensweise. Sie ließen ihre Familien zurück, ihre Götter, ihre Geister, ihre Version dessen, was das Leben ist, worauf man sich freut und wovor man sich hüten muss. Tausende von Menschen aus allen Winkeln der Welt vollzogen diesen jähen Sprung in die Zukunft.
    Doch auch, wenn Du einfach in Deiner Dornenhütte geblieben wärst, auch, wenn Du weiter Dein Leben damit verbracht hättest, die Hütte abzubauen, einem geduldigen Kamel auf den Rücken zu laden und mit der Karawane zum nächsten Weidegrund zu ziehen, gemeinsam mit Deinem Mann und seinen Kindern und deren Kindern und den anderen Frauen und Kindern Deines Mannes – auch dann hätte Dich das moderne Leben eingeholt, in Form von Gewehrkugeln und Ziegelsteinen, staatlichen Verordnungen und Männern in Uniform. Die Moderne dringt bis in den letzten Winkel der Erde vor.
    Großmutter, ich habe die Moralvorstellungen der Ungläubigen mit denen verglichen, die Du uns gelehrt hast, und muss Dir berichten, dass sie im Alltag für die Menschen besser taugen als die Gebote unserer Vorväter.
    Du hast uns die Tugenden des Argwohns und des Misstrauens beigebracht, und der Islam hat uns taqqiyah gelehrt, uns zu verstellen. Du warst wütend auf mich, als mich Mahad in das mit Exkrementen gefüllte Latrinenloch stieß, weil mein Vertrauen in Deinen Augen reine Dummheit war, auch dem eigenen Bruder gegenüber. »Sei wachsam« war Dein Motto. Aber Wachsamkeit macht müde. Es ist anstrengend, ständig auf der Hut zu sein, für den Fall,

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