Ich bin eine Nomadin
Stammeskultur hatten das Natürlichste der Welt, ihre eigene Sexualität, mystifiziert und dafür gesorgt, dass sie sich nicht damit auseinandersetzte. Jetzt lebte sie in der Diaspora, und dieser religiöse Kontrollmechanismus konnte nur zu Verleugnung und Heuchelei, zu Selbstzerstörung und Vernichtung führen.
Ich fragte mich, wie Hirans Freund heute wohl über sein blindes Vertrauen in sie denken mag, das er doch so teuer bezahlt hat. Ich habe nicht mit ihm gesprochen. Ich kenne ihn nicht. Aber als er sie kennenlernte, dachte er vielleicht: Sie ist Muslimin, sie trägt ein Kopftuch, sie verurteilt jede sexuelle Aktivität vor der Ehe, also muss sie Jungfau sein.
Wenn Anhänger kosmopolitischer, multikultureller Ideale in hohen Tönen von Toleranz und freundlicher Aufnahme und Wärme schwärmen, übersehen sie solche Folgen, unter denen Menschen wie der irische Freund meiner Cousine zu leiden haben.Sie heißen Menschen wie uns in der westlichen Gesellschaft willkommen und werden dann desillusioniert.
Wie soll man Hirans Handeln, oder besser ihr Nicht-Handeln, beurteilen? Sie wusste, dass sie positiv auf HIV getestet worden war. Sie wusste, dass sie sich das Virus durch Geschlechtsverkehr zugezogen hatte und es weitergeben konnte. Sie sagte ihrem Freund nichts, weil sie es nicht einmal sich selbst eingestehen konnte. Sie bestand nicht darauf, Kondome zu benutzen, weil sie ihren Zustand auch vor sich selbst verleugnete – sie hatte ihn aus der Realität verbannt.
Zwei Menschen aus unterschiedlichen Kulturen trafen hier aufeinander. Einer entstammte einer Gesellschaft, die die Verantwortung des Einzelnen betont (in diesem Fall die sexuelle Verantwortung), der andere war von klein auf dazu erzogen worden, nach den Regeln der Gruppe zu denken. Hiran wuchs in Angst vor ihrer eigenen Sexualität auf, sie versank in Selbsthass, weil sie Sex außerhalb der Ehe hatte, und sie misstraute den Ungläubigen, weil man es ihr so eingeschärft hatte. Ihr Freund setzte Vertrauen in sie, sie missbrauchte es.
Als Hiran schließlich an AIDS erkrankte, ertrug sie den Druck nicht länger und litt immer wieder unter psychotischen Schüben. Erst jetzt erfuhr ihr Freund von ihrer Krankheit und ließ sich ebenfalls testen. Auch er war infiziert. Magool erzählte, er habe Hiran nach dem ersten furchtbaren Schock weiterhin im Krankenhaus besucht. Als sie wieder aus der Psychose auftauchte und normal genug war, um zu sprechen, fragte er Hiran, warum sie es ihm nie gesagt habe.
Magool war dabei und hörte auch, wie Hiran antwortete: »Du hast mich angesteckt. Ich habe es von dir!« Erst danach hörte er auf, sie zu besuchen.
Beim Zusammenprall zwischen den Werten der islamischen Stammeskultur und der westlichen Moderne geht es im Grunde um drei universale menschliche Leidenschaften: Sex, Geld und Gewalt. Aus westlicher Sicht dreht sich die jetzt so intensiv geführte Debatte um die Integration von Minderheiten (sprich: Muslimen) in Europa und die richtige Strategie im »Krieg gegen den Terror«, der in Amerika als Reaktion auf die Angriffe vom 11. September 2001 begann, um fundamental verschiedene Einstellungen zu Sex, Geld und Gewalt – oder, hochtrabender ausgedrückt, um Demografie, Kaufkraft und militärische Stärke.
Ich habe mich mit der Rhetorik des radikalen Islam beschäftigt und habe als junge Frau versucht, nach seinen Prinzipien zu leben. Daher weiß ich, dass diese drei Themen der Maßstab sind, mit dem Islamisten das messen, was sie als die Dekadenz und moralische Verderbtheit des Westens betrachten.
Meine Cousins und Cousinen stecken wie so viele in der globalisierten Welt, auch ich, zwischen den beiden Kulturen fest. Man hat sie nie auf ein Leben im Westen vorbereitet. Die europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften haben sich durch die Werte der Aufklärung im 18. Jahrhundert grundlegend geändert. Das Gleichgewicht der Kräfte hat sich vom Kollektiv weg und hin zum Individuum verschoben. In diesen Hunderten von Jahren entwickelten Denker und Politiker immer neue und bessere Möglichkeiten, in den Bereichen der drei Grundbedürfnisse so viel individuelle Freiheit wie möglich zuzulassen, ohne das »Gemeinwohl« zu opfern. (Es wird wohl auf ewig umstritten bleiben, wer festlegt, was das »Gemeinwohl« ist, in offenen Gesellschaften wie in allen anderen).
Diese drei Leidenschaften stehen im Mittelpunkt des Wegs der Muslime aus dem Stammesleben hinein in westliche Gesellschaften, die auf den Werten der
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