Ich bin eine Nomadin
Diskriminierung gesehen hatten, konnten sie nicht länger so tun, als gäbe es sie nicht.
Wir hatten damals ein gutes Arbeitsverhältnis. Gelegentlich plauderten wir am Telefon, tauschten vor einer Debatte unsere Informationen aus, trafen uns zum Essen und gelegentlich auch zu einem Drink.
Als der Parteivorsitzende Gerrit Zalm im Jahr 2006 sein Amt niederlegte, beschloss Rita Verdonk, für den Parteivorsitz zu kandidieren. Sie trat gegen Mark Rutte an, einen jungenhaft attraktiven, erheblich jüngeren Mann als sie, der in der Partei als neuer Hoffnungsträger gehandelt wurde. Unmittelbar vor der Sitzungspause des Parlaments im Frühjahr sprach ich mit ihr in ihrem Büro über die politische Linie. Das Gespräch kam auf die Tagespolitik, etwas völlig anderes, und unvermittelt bat sie mich, sie öffentlich zu unterstützen. Mir war dabei überhaupt nicht wohl. Gerrit Zalm und Jozias van Aartsen, ein weiterer führender Liberaler, hatten alle Parteimitglieder aufgefordert, auf die öffentliche Unterstützung eines Kandidaten zu verzichten, damit die Spaltung innerhalb der Partei nicht an die Öffentlichkeit gelangte. Konsens ist in den Niederlanden ein heiliges Gut. Zwar lieben die Medien jedes Anzeichen von Meinungsverschiedenheit, sie würden sich darauf stürzen und es genüsslich ausschlachten, aber in der Regel achten die Parteiverantwortlichen sorgfältig darauf, dass innerparteiliche Auseinandersetzungen nicht öffentlich werden, weil sie dies für unprofessionell und schädlich für die Parteiziele halten.
Ich antwortete Rita: »Ich gebe keine öffentliche Stellungnahme ab. Du weißt, was Gerrit und Jozias sagen würden.«
Ritas Lächeln wirkte gezwungen. »Komm schon, Ayaan, das kaufe ich dir nicht ab! Seit wann kümmerst du dich darum, was Gerrit und Jozias sagen?«
Ich wechselte die Haltung und griff nach meinem Glas. »Das Verhältnis zwischen mir und Jozias ist ohnehin schon reichlich angespannt. Gerrit hat viel Geduld mit mir gehabt. Ich will keinen Ärger.«
Aber Rita gab sich nicht geschlagen: »Ayaan, du weißt doch, es geht nicht um mich. Es geht um die Menschen. Sie sind wütend. Wenn ich durch das Land fahre, laden sie mich zu sich ins Haus ein und erzählen mir von ihren Schwierigkeiten. Das betrifft nicht nur den Wohlfahrtsstaat und die Globalisierung, diese ganzen abgehobenen Themen. Den Leuten geht es um den Müll auf den Straßen, um die Tochter, die vergewaltigt wird. Es geht darum, dass sie mit ansehen, wie ihre Einkommen schwinden. Sie leiden. Das sind die Männer und Frauen, die Pim Fortuyn gewählt haben, und seit er tot ist, haben sie keine politische Heimat mehr. Jozias und Gerrit werden das nicht öffentlich sagen, aber sie unterstützen Rutte. Glaubst du, Rutte kann diese Stimmen für unsere Partei gewinnen?«
Ich hätte ihr gerne gesagt, was ich wirklich dachte: dass beide, sie und Rutte, für den Posten ungeeignet waren. Sie waren Neulinge in der Politik (genau wie ich), und keiner von ihnen hatte offenbar eine Vorstellung davon, wie er oder sie das Land verändern wollte; der persönliche Ehrgeiz schien ihre ganze Motivation, sonst nichts. Mein Wunschkandidat, Henk Kamp, besaß jahrzehntelange politische Erfahrung und hatte bereits zwei Ministerien geleitet. Er agierte viel geschickter als Rita, und gleichzeitig strahlte er Bescheidenheit und stille Intelligenz aus. In meinen Augen war es sehr unglücklich, dass er nicht kandidieren wollte. Aber ich wollte Rita nicht kränken, indem ich ihr das offen sagte. Also setzte ich zu einem eher ablenkenden Monolog über das Wesen der holländischen Politik an, bis Rita mich unterbrach – nunmehr mit einem harten Blick: »Ich bin hier aufgewachsen. Ich kenne dieses Land besser als du.«
Ich nickte. Es gelang mir, den Schmerz zu überspielen, den die Bemerkung auslöste. Rita war nicht die Einzige, von der ich so etwas zu hören bekam. Viele Menschen, die anderer Meinung waren als ich, beriefen sich auf ihr holländisches »Geburtsrecht«, ihr intuitiv besseres Verständnis aller holländischen Probleme. Es ist eine einfache Ausflucht: Du bist die Außenstehende, ich bin der/die Einheimische, also habe ich recht.
Ihre Haltung wechselte von dem Versuch, mich mit schmeichelnden Worten zu überreden, zur offenen Äußerung ihrer Empörung und Ungeduld, weil ich nicht nachgab und sie nicht unterstützen wollte. Jemand müsse schließlich die Arbeit machen – diesen Satz sagte sie nicht nur einmal –, und ich hindere sie daran.
Rita
Weitere Kostenlose Bücher