Ich bin eine Nomadin
war ein großes Risiko eingegangen, als ich die Welt meines Clans verlassen hatte. Gewiss, ich hatte meine Eltern sehr verletzt und mich der Gnade eines zornigen Gottes ausgesetzt. Ich hatte meine Schwester verloren und empfand tiefen Schmerz. Aber ich spürte, dass mir etwas sehr Wichtiges gelungen war – etwas, worin ich nach den Voraussagen meiner Familie eigentlich hätte scheitern müssen.
In allen Geschichten, die mir erzählt wurden, musste die junge Frau, die ihre Familie – oder schlimmer noch, ihren Clan – verließ, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen, feststellen, dass ihr Leben in schrecklicher Armut endete. Sie bereute ihren Schritt bitter. Ich hatte nicht nur meine Familie und meinen Clan verlassen: Ich war völlig auf mich gestellt, und das in einem Land der Ungläubigen. Und trotzdem fand ich, dass ich mit erhobenem Haupt zurückblicken konnte. Ich war keineswegs verarmt, sondern hatte den Weg des Fortschritts betreten. Und ich fühlte mich im Grunde immer noch als gläubige Muslimin, die sich allenfalls ein paar Verstöße gegen die Religion leistete: Ich betete nicht, trank Alkohol und hatte unverheiratet Sex, aber ich glaubte immer noch (mit einem beklemmenden Gefühl), dass ich eigentlich die wichtigsten Gebote Allahs befolgen musste und eines Tages in ferner Zukunft auf seinen schmalen Pfad der Tugend zurückkehren würde.
Mit meinem Vater hatte ich mich versöhnt. Er hatte sogar zugegeben, dass er mich nicht gegen meinen Willen hätte verheiraten dürfen, und setzte sich monatelang dafür ein, dass die Scheidung vollzogen wurde. Ich sah das als Beweis dafür, dass er mir nicht nur verziehen hatte, sondern meinen selbst gewählten Lebensweg akzeptierte. Mit meiner Mutter blieb ich in ständigem Kontakt und schickte ihr monatlich eine kleine Unterstützung. Mahad war krank geworden, was mich sehr traurig stimmte, aber nach seiner Genesung konnten er und ich am Telefon miteinander reden. Gelegentlich schickte ich auch meinen Cousins und Cousinen eine E-Mail oder rief sie an. Der Familienkreis nahm mich zwar nicht gerade mit offenen Armen auf, aber im Lauf der Zeit spürte ich, dass meine Eigenart allmählich akzeptiert wurde. Der berufliche Erfolg in Holland verschaffte mir Respekt, und ich hatte das Gefühl, zu ihnen zu gehören, wenn auch auf meine Art.
Mein Leben war damals noch nicht politisiert. Ich hatte noch keine öffentlichen Stellungnahmen zum Islam abgegeben, die mir Publicity, Ruhm, einen Sitz im niederländischen Parlament einbringen sollten, ja, eine Mission, das Leben von Millionen Frauen zu verbessern, die ich nie gesehen hatte. Andererseits bescherten sie mir aber auch tragische Ereignisse, Todesdrohungen und Leibwächter. Meine beste Freundin Ellen und ich machten gerne Radtouren mit Freundinnen – eine Schar junger Frauen sauste auf Fahrrädern gut zehn Kilometer zum Strand, wo wir ein Picknick veranstalteten. Wir stürzten uns in die eiskalten Nordseewellen und liefen über die Sanddünen zum nächsten Kiosk, wo wir köstlich gewürzte patat-oorlog (wörtlich »Pommes wie im Krieg«) kauften. Ich genoss das Leben in vollen Zügen, unbändiger als jemals zuvor. Ich freute mich auf eine Zukunft, die kein unruhiges Leben verhieß, sondern eine gesicherte, stabile und berechenbare Existenz, umgeben von liebenden Freunden, sowie einen noch verschwommenen, aber bestimmt wunderbaren Lebenspartner und Kinder – womöglich gar ein neugieriges kleines Mädchen, das mir ähnlich sah.
Mein Leben in Holland endete jedoch abrupt im Mai 2006, noch dazu in einer Atmosphäre voller Dramatik, die zugleich einer Farce glich. Obwohl ich damals ein recht prominentes Mitglied des Parlaments war, entzog mir die holländische Ministerin für Immigration und Integration Rita Verdonk die Staatsbürgerschaft, sah sich allerdings wenige Wochen später gezwungen, sie mir zurückzugeben, nachdem über der heftigen Debatte im Parlament die Regierung gestürzt war und Neuwahlen durchgeführt werden mussten.
Bei meiner Ankunft in den Niederlanden hatten mir Flüchtlingsanwälte erklärt, für eine Aufenthaltserlaubnis reiche es nicht aus zu sagen, dass ich vor einer Zwangsehe geflüchtet sei. Wenn ich das als Grund nannte, werde man mich nach Afrika zurückschicken. Um in den Niederlanden Asyl zu erhalten, müsse ich sagen, dass ich in Somalia wegen meiner politischen Überzeugung oder wegen der Clanzugehörigkeit verfolgt worden sei. Also hatte ich damals diese Gründe angegeben, obwohl sie nicht der
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