Ich bin eine Nomadin
Wahrheit entsprachen, und war prompt als politischer Flüchtling anerkannt worden.
Als ich Jahre später aufgefordert wurde, in die liberale VVD (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie) – eine politische Partei, die sich für die Freiheit des Einzelnen, für Begrenzung der Staatsmacht, freien Markt und nationale Sicherheit einsetzte – einzutreten und bei den Parlamentswahlen zu kandidieren, fragte der Parteivorsitzende mich, ob ich irgendwelche Leichen im Keller hätte. »Ja, habe ich«, erwiderte ich. »Bei meiner Einreise in die Niederlande habe ich meinen Namen und mein Geburtsjahr geändert und habe überhaupt eine Menge Lügen erzählt.« Ich breitete die ganze Geschichte vor ihm aus.
Der Parteivorsitzende sprach mit Rechtsberatern der Partei und Anwälten, aber alle behandelten die ganze Angelegenheit als Lappalie, als Notlüge, die schon Jahre zurücklag. Sie hoben hervor, dass es mir gelungen war, mich an das Leben in den Niederlanden anzupassen: Das war in ihren Augen eindeutig viel wichtiger als die Lügen, die ich damals aufgetischt hatte. Sie wollten mich als ein Musterbeispiel präsentieren: Wenn Einwanderer ernsthaft beschließen, niederländische Wertvorstellungen zu übernehmen, die Sprache erlernen, studieren und arbeiten, dann können sie genauso erfolgreich sein wie ich. Neben der Vorbildfunktion wurde ich auch als Expertin für die gesellschaftlichen und kulturellen Hindernisse der Integration angesehen – und für den richtigen Weg, sie zu überwinden.
Rita Verdonk war eine Parteifreundin, tatsächlich hatte man uns beide ungefähr zur selben Zeit in die Liste der liberalen Partei für die Parlamentswahl aufgenommen. Sie hatte zuvor ein Gefängnis geleitet und war Abteilungsleiterin in einer staatlichen Behörde gewesen: Direktorin für Staatssicherheit im Inlandsgeheimdienst. Ich hatte damals etliche Artikel über den Islam geschrieben. Es war eine sehr unruhige Phase der niederländischen Politik. Pim Fortuyn, ein einflussreicher, charismatischer Redner und bekennender Homosexueller, hatte viel Aufsehen erregt und bei den bevorstehenden Wahlen gute Aussichten auf den Sieg, aber er wurde von einem verwirrten militanten Tierschützer erschossen. Mit Ritas und meiner Berufung wollte die VVD eindeutig Kandidaten für sich gewinnen, die potenzielle Fortuyn-Wähler ansprechen würden.
Mir wurde die Rolle der Muslimin zugedacht, die in Holland die Freiheit gesucht und gefunden hat. Im Gegensatz zu weißen Kommentatoren, die nicht als Rassisten gebrandmarkt werden wollten, konnte ich meine Kritik an den feudalen, religiösen und repressiven Mechanismen ungehindert äußern, in denen Frauen aus muslimischen Gemeinschaften immer noch gefangen waren. Rita Verdonk hingegen sollte das Gesicht und die Stimme all jener Holländer und Holländerinnen sein, die Pim Fortuyn gewählt hatten – die das Gefühl hatten, in ihrem eigenen Land entrechtet zu werden, die meinten, sie würden bedrängt und ihre Gesellschaft ins Chaos gestürzt.
Rita war eine Frau über fünfzig und sah mit ihrem dunklen, kurzen Haar auch so aus. Sie war stämmig gebaut und wirkte mit ihrer Statur kräftig, aber auch herzlich, ja mütterlich. Sie war die Verkörperung holländischer Rechtschaffenheit und strahlte Fleiß und Kompetenz aus. Sie hatte jenen offenen, leicht missbilligenden Blick, der für manche Holländer typisch ist. Auf die Wähler Fortuyns übte das eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Fortuyn war ein demonstrativ homosexueller Intellektueller gewesen, der mit dem hochnäsigen Ton der Oberschicht gesprochen hatte; Rita hingegen spiegelte treffender die Lebensweise und Wertvorstellungen seiner Wähler und verfocht darüber hinaus einen großen Teil ihrer Ansichten. Nach dem Plan der Parteiführung sollten sie und ich ganz eindeutig Punkt für Punkt zu einem Konsens kommen, hinter verschlossenen Türen, versteht sich. In der Führung betrachteten uns viele als Rebellen, andere als Marionetten, aber das Ziel lautete: rebellische Splitterparteien wie die von Pim Fortuyn überflüssig zu machen, weil wir seine nunmehr fügsamen Wähler in die sichere Obhut der untadeligen, anständigen liberalen Partei locken würden. Und alles würde gut enden, nach bewährtem niederländischem Muster: mit einem Konsens.
Wer waren eigentlich Fortuyns Wähler? Polizisten, Lehrer, Beamte, Inhaber kleiner Familienbetriebe (Bäcker, Fleischer, Gärtner), die sich von staatlichen Vorschriften tyrannisiert fühlten und in den
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