Ich bin eine Nomadin
Einwanderern aus Marokko und der Türkei Rivalen (mit kleinen Geschäften, die billiger verkaufen konnten, weil sie billige, illegale Arbeitskräfte beschäftigten) und schlechte Arbeitnehmer sahen (unpünktliche und aufmüpfige Faulenzer, die nicht einmal richtig Holländisch sprachen). Sie nahmen Immigranten als »verloedering« wahr, als Verfall, Verlotterung. Immigranten trennten den Müll nicht. Ihre Kinder blieben nicht auf den Radwegen. Sie respektierten weder staatliches noch privates Eigentum. Sie verwüsteten Geschäfte, begingen Verbrechen, belästigten Frauen und verwandelten ehemals gute Wohnviertel in unsichere und schmutzige Gegenden. Wenn die Polizei die Kinder einmal aufgriff, wurden sie von den Richtern mit der Begründung, sie seien noch minderjährig, wieder auf freien Fuß gesetzt. Sie brachen die Schule ab. Ihre Familien erschlichen sich mit Lug und Trug großzügige Sozialleistungen und zahlten keine Steuern. Sie schmuggelten sich auf den Warteschlangen für Sozialwohnungen nach oben. Von all diesen Klischees mochte kein einziges genau oder gar auf alle Immigranten zutreffen, aber sie trafen zumindest so weit zu, dass viele diese Wahrnehmung teilten.
Es bestand eine merkliche Spannung zwischen dieser Schicht der »Rita-Wähler« und den regierenden Politikern. Fortuyns Wähler trauten den Politikern nicht länger, weil sie den Ausländern die Grenzen der Niederlande geöffnet hatten. Aber während die Mittel- und die Oberschicht es sich leisten konnten, in schicke, teure Wohnviertel zu ziehen und ihre Kinder auf sichere Schulen zu schicken (und inoffizielle Privilegien durchsetzen konnten, durch die sie weniger dem »Verfall« durch die Immigranten ausgesetzt waren), hatten die Rita-Wähler das beklemmende Gefühl, sie und ihre Wohngegenden müssten die Hauptlast tragen. Und als sie ihre Bedenken offen aussprachen, wurden sie als provinziell und intolerant gebrandmarkt.
Die »eiserne Rita«, wie sie später genannt wurde, hatte ein Gefängnis geleitet. Sie sprach Missstände so offen an, dass es schon an Grobheit grenzte, und legte großen Wert auf die peinlich genaue Einhaltung der Gesetze. Ich mochte sie eigentlich. Unter den Wählern meiner Partei stieg sie zur populärsten Politikerin auf. Als Ministerin für Integration und Einwanderung hatte sie im Kabinett großen Einfluss. Ich war lediglich Abgeordnete im Parlament, wurde aber zur Sprecherin für Fragen der Integration und Emanzipation ernannt. (In der offiziellen Bezeichnung blieb offen, in was integriert und wovon emanzipiert.)
Es war allgemein bekannt, dass meine Ansichten zur Einwanderung von Ritas Ansichten abwichen. Zum Beispiel unterstützte ich die Idee einer Amnestie für die sechsundzwanzigtausend Asylbewerber, denen man nach mehr als fünf Jahren Aufenthalt und Berufstätigkeit in Holland den Flüchtlingsstatus entzogen hatte und die folglich nicht länger das Recht hatten, in dem Land zu leben. In anderen Fragen waren wir uns jedoch einig. Wir plädierten beide für Quoten, die Menschen aus Polen und anderen osteuropäischen Ländern die Einwanderung erleichterten, Kandidaten aus Marokko und der Türkei hingegen erschwerten. Es ging uns darum, die Niederlande für Einwanderer attraktiv zu machen, die arbeiten wollten: Wir brauchten Krankenschwestern, Altenpfleger, Erntehelfer, Arbeitskräfte in Restaurants und Hotels, Elektriker, Maler und Bauarbeiter. Die Einwanderer aus Nordafrika und der Türkei wurden mit der Begründung »Familienzusammenführung« ins Land gelassen. Sie gingen direkt zum Sozialamt oder beantragten nach kaum einem Jahr Berufstätigkeit Arbeitslosengeld. Die meisten waren nicht vermittelbar: Entweder hatten sie keine Qualifikation oder eine Arbeitsmoral, die Arbeitgeber inakzeptabel fanden.
Genau wie ich wollte auch Rita Verdonk die Behandlung von Frauen im Islam anprangern. Ich klatschte ihr im Jahr 2004 sogar Beifall, als sie eine Moschee betrat und einem Imam die Hand hinhielt, obwohl sie genau wusste, dass er sie zurückweisen würde. Dieses Bild löste in den Niederlanden viel Wut und Verwirrung aus, aber die Geste, die sie provoziert hatte – die offene Geringschätzung einer Vertreterin der Regierung –, drückte nicht nur das aus, was manche Imame in Holland über Frauen sagten, sondern auch ihre Verachtung für holländische Wertvorstellungen, die Gesellschaft und Gesetze.
Wie Rita war auch ich der Meinung, dass die Menschen das mit eigenen Augen sehen mussten: Wenn sie die
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