Ich bin eine Nomadin
System. Ich habe auch gelogen.«
Rita blieb unerbittlich. Sie sagte, vermutlich als eine Art Warnung an mich: »Wenn ich damals Ministerin gewesen wäre, als du Asyl beantragt hast, dann hätte ich dich auch abgeschoben.«
Zwei Wochen später, in der Sitzungspause des Parlaments, brachte eine Fernsehsendung namens Zembla einen Beitrag, in dem ausführlich darüber berichtet wurde, dass ich bei meinem Asylantrag gelogen hatte. Vierzehn Tage vor der Wahl der neuen Parteiführung ließ Rita Verdonk verlauten, dass sie derzeit meine Einwanderungsakte prüfe und dass mein Status in den Niederlanden nicht nur als Abgeordnete, sondern als Staatsbürgerin fraglich sei. Ein paar Tage danach gab sie bekannt, dass sie mir die holländische Staatsbürgerschaft aberkenne. Genau genommen sagte sie, ich hätte niemals die holländische Staatsbürgerschaft besessen, da ich sie mit falschen Angaben beantragt hätte.
Die Entscheidung der eisernen Rita, mich staatenlos zu machen, wurde von vielen Kollegen im Parlament (selbst von jenen, die selten mit meinen politischen Äußerungen einverstanden waren) als willkürlich, rachsüchtig und sehr merkwürdig angesehen. Der ganzen Affäre haftete ein Hauch von Bananenrepublik an. Nach wochenlangen, für die Niederlande sehr untypischen Tumulten im Parlament setzten die Presse und die Öffentlichkeit, der Premierminister, die Minister und eine große Mehrheit des Parlaments die Innenministerin massiv unter Druck, mir die Staatsbürgerschaft zurückzugeben. Am Ende lenkte sie ein, aber nur unter der Bedingung, dass ich eine Erklärung unterschrieb, dass ich sie in Bezug auf meinen Asylantrag angelogen hätte. Wenn ich diese Erklärung unterschrieb, würde ich zum zweiten Mal lügen. Aber ich musste unterschreiben, sonst hätte Rita nicht das Gesicht wahren können.
Doch der Konsens ließ sich nicht so leicht wiederherstellen. Die Partei D66, eine kleine, pseudoliberale Partei, die ebenfalls der Regierungskoalition angehörte, hielt das Vorgehen für empörend und forderte Rita Verdonks Rücktritt. Andernfalls wollte die D66 aus der Koalition ausscheiden und die Regierung stürzen. Rita trat nicht zurück. In diese Lage war sie zwangsläufig durch einen Charakterzug geraten, der bei anderen Gelegenheiten ihre Stärke war: ihre Unflexibilität, die gleichzeitig eine Unfähigkeit war, sich an geänderte Bedingungen anzupassen oder einen Fehler einzuräumen.
Die Regierung stürzte, Neuwahlen wurden anberaumt. Rita verlor das Rennen um den Parteivorsitz. Wenige Monate später musste die VVD bei den Parlamentswahlen Stimmenverluste hinnehmen und konnte keinen Sitz im Kabinett mehr beanspruchen. Im September 2007 wurde Rita Verdonk von ihrem alten Rivalen Mark Rutte, dem neuen Parteivorsitzenden, aus der VVD ausgeschlossen, nachdem sie die »unsichtbare Haltung« der Partei zur Einwanderung kritisiert hatte. Zugleich gehörte sie nicht länger jenem magischen, gleichmäßigen Dreieck des politischen Establishments in den Niederlanden an. Sie gründete eine eigene Partei mit dem Namen Trots op Nederland, »Stolz auf die Niederlande«. Ihre öffentliche Unterstützung hat allmählich abgenommen. Rita Verdonk ist eine Ausgestoßene aus der Politik geworden.
Ich zog daraus eine wichtige Lehre über das Wesen der holländischen Politik. Rita hatte, wie mir klar wurde, gegen das allerheiligste Tabu der politischen Elite, der Regenten, verstoßen, weniger mit dem, was sie sagte, sondern durch die Art, wie sie es sagte. Eine Konsensgesellschaft wie die Niederlande verlangt eine hohes Maß an Konformität: Der Tonfall, Beiklang, Zeitpunkt und Kontext, den man wählt, um die eigene Botschaft zu artikulieren, entscheiden über Sieg oder Niederlage. Wenn die Regenten sich in ihre Reihen Einzelpersonen aus Gruppen holen, die in der Vergangenheit keine Macht hatten, wird ihnen eingeschärft, ihre Wünsche und Beschwerden auf dieselbe Weise wie die Regenten zu äußern. In Holland muss man verhandeln und Kompromisse schließen; die Redefreiheit ist durch die Grenzen dessen eingeschränkt, was die Regenten noch als akzeptabel ansehen. Eine Person von Ritas Format und Temperament musste sich zwangsläufig damit schwertun, weil sie es nicht ertrug, Kompromisse einzugehen, und jene subtile Grenze der Konformität nicht einmal erkannte. Ihre Kritik an Immigranten, unabhängig davon, wie berechtigt sie war oder nicht, wirkte inakzeptabel grob, engstirnig oder schlicht rassistisch.
Außerdem zog ich daraus die
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