Ich bin eine Nomadin
wurde immer abweisender. Sie erzählte mir von ihrem gespannten Verhältnis zu dem Parteikollegen Piet Donner, dem Justizminister, und dem linken Bürgermeister von Amsterdam, Job Cohen – beide Repräsentanten einer in ihren Augen kleinen Clique, hauptsächlich Männer, die dieselbe Hochschule besucht und derselben Verbindung angehört hatten, die mit dem gleichen Akzent sprachen und letztendlich nur die Interessen ihrer gemeinsamen Klasse verfolgten, auch wenn sie unterschiedliche politische Ideologien repräsentieren mochten. Ich wusste, dass sie häufig jede Form der Gegnerschaft als hochnäsige, arrogante Verachtung der Oberschicht für eine Frau interpretierte, die nicht zögerte, eigenhändig die wahren Probleme des Lebens anzupacken. Die Leier kannte ich schon. Und es steckte ja auch ein Körnchen Wahrheit darin.
Pim Fortuyn hatte die politische Elite Hollands als »Regenten« bezeichnet, die hinter den Kulissen die wahre Macht ausübten. Die Regenten bilden ein elitäres Dreieck: die Oberschicht und das Königshaus (auch wenn Einheimische die Niederlande gerne eine klassenlose Gesellschaft nennen, ist das weit von der Realität entfernt), die Führer der Gewerkschaften und die Direktoren der Unternehmen. Diese drei Gruppen haben eigentlich divergierende Interessen, aber ihre prominenten Führer treffen sich in Fünf-Sterne-Hotels, elitären Clubs und Regierungsinstitutionen, und hin und wieder öffnet die Königin die Palasttore für sie. Diese Männer und Frauen (überwiegend Männer) sind in die Kultur der gepriesenen Konsenspolitik der Niederlande eingebettet. Jedes Mal, wenn eine Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen zutage tritt, stecken sie in sicherer Entfernung voneinander, in den Medien, ihre Positionen ab. Die Journalisten melden dann ganz aufgeregt, dass man in eine Sackgasse geraten sei. Nach dem rituellen Säbelrasseln der Stellvertreter ziehen sich die zerstrittenen Parteien in ein geeignetes Kämmerlein zurück, und Tage später präsentieren sie begeistert eine Einigung: Die Kluft ist überwunden worden. Einflussreiche Mitglieder aller Seiten dieses Dreiecks haben eine Hochschul- und Medienlaufbahn hinter sich. Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass der Dekan einer Fakultät Minister wird, oder umgekehrt der Chefredakteur einer Zeitung Dekan und anschließend Bürgermeister.
Pim Fortuyn hatte selbst der Regentenschicht angehört. Er war Professor in Rotterdam gewesen und hatte sich mit seinen Büchern und Zeitungsartikeln einen Namen gemacht. Rita hingegen gehörte nicht der politischen Klasse an, und deren Angehörige blickten auf sie herab. Ich gehörte auch nicht dazu, aber ich genoss bis zu einem gewissen Grad die wohlwollende Unterstützung von hohen Parteimitgliedern und der grauen Eminenz Frits Bolkestein. Wahrscheinlich machte genau das Rita misstrauisch.
Es war Zeit für mich zu gehen. »Rita«, sagte ich, »lass mich darüber nachdenken.« Mein Unbehagen hatte ich damit zum Ausdruck gebracht, weil wir beide wussten, dass dies in der holländischen Politik eine unmissverständliche Botschaft in dem Sinne war: Ich habe mich bereits entschieden und werde dich nicht unterstützen.
Für einen Moment ging mir durch den Kopf, dass ich womöglich ihre Unterstützung verlieren könnte, aber das spielte keine große Rolle mehr. Ich hatte bereits beschlossen, aus der Politik auszusteigen. Genau genommen hatte ich Rita sogar anvertraut, dass ich nicht beabsichtigte, bei der nächsten Wahl für einen Sitz im Parlament zu kandidieren.
Zum Abschied küssten wir uns, wie in Holland üblich, dreimal auf die Wange und wünschten uns schöne Frühjahrsferien.
Ich bin mir sicher, dass Rita wusste, und zwar schon lange, dass ich damals, mit zweiundzwanzig, bei meinem Asylantrag gelogen hatte. Selbst wenn sie die unzähligen Interviews und Erklärungen nicht gelesen haben sollte, in denen ich das gegenüber lokalen, nationalen und internationalen Zeitungen und Zeitschriften offen zugegeben hatte, wir beide hatten mehrmals darüber gesprochen, zuletzt nur wenige Tage nach der unangenehmen Unterhaltung in ihrem Büro.
Ich hatte sie angerufen und gebeten, ihre Entscheidung rückgängig zu machen, ein achtzehnjähriges Mädchen aus dem Kosovo, Taida Pasic, abzuschieben, die in Kürze ihren Schulabschluss machen wollte.
»Sie hat gelogen«, sagte mir Rita. »Mir sind die Hände gebunden.«
»Aber Rita, du verstehst nicht«, flehte ich sie an. »Fast alle Asylbewerber lügen. So funktioniert das
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