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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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besucht hätten. In meiner Kindheit war die Anwesenheit von Frauen weder erforderlich noch sonderlich erwünscht, außer es war ein besonderer Festtag wie das Eid-Fest am Ende des Ramadan. In radikalen Moscheen hingegen beziehen spezielle Kurse Frauen in die kleineren und größeren Dschihads zum Ruhm des Propheten mit ein. Überall, wo man Frauen in Scharen in die Moschee gehen sieht, sollte man vielleicht auf der Hut sein.
    Die US-Regierungsvertreter wollten analysieren, auf welche Weise der Islam als politisches Instrument eingesetzt wird, um Massen von jungen Menschen zu Gewalttaten zu mobilisieren; sie wollten verstehen, wie die Missionierung (dawa) abläuft. Sie hofften, dass ich ihnen helfen würde, eine friedliche Praktizierung der Gebote des Islam von der gefährlichen Variante unterscheiden zu können. Genau dieselbe Frage hatte ich in Europa schon viele Male gehört: Wie überschreiten Menschen diese Linie? Woran merkt man, dass sie die Linie bereits überschritten haben?
    Ich antwortete, man solle sich nicht länger ausschließlich auf einzelne missionierende Hassprediger konzentrieren. Das sollte natürlich nicht heißen, die radikalen Islamisten zu vernachlässigen. Vielmehr meinte ich damit: Wenn man verstehen will, weshalb so viele junge Muslime für deren Überredungskünste empfänglich sind, muss man zunächst den Inhalt, den Kontext und die Methoden untersuchen, mit denen fast alle Muslime zu praktizierenden Muslimen erzogen werden, weil sich die Hassprediger vorhandene Gedächtnisspuren zunutze machen und Erinnerungen aus dem Unterricht der frühen Kindheit wiederaufleben lassen. Anfangs verstärken sie diese Erinnerungen, dann folgt die nächste Phase der Politisierung, erst zuletzt geht es um Gewalt und Märtyrertod.
    Bei einem Muslim wird der Geist von Geburt an geprägt. Man wird angewiesen, sich zu unterwerfen, keine Fragen zu stellen. Wenn Prediger dann von der Rückkehr auf den reinen, wahren Pfad des Dschihad und der persönlichen Moral sprechen, wie sie der Prophet Mohammed niedergeschrieben hat, präsentieren sie etwas bereits Vertrautes, nichts völlig Neues. Sie stützen sich auf Schichten einer mentalen Struktur, die einem die Eltern, die Gemeinschaft, der Koranlehrer eingetrichtert haben. Genau deshalb ist die Phase vor der Radikalisierung – die Phase, in der der »reguläre« Islam gepredigt wird – so überaus wichtig. Als Erstes werden zwar die Gebetsvorschriften, die Wohltätigkeit und das Fasten gelehrt, aber Muslime lernen diese Regeln rein mechanisch; den Gläubigen ist es nicht gestattet, den Text oder die Aussagen des Propheten infrage zu stellen. Nachdem ein Muslim jahrelange unkritisch die Lehren des Islam allgemein und die Forderung nach Gehorsam speziell aufgenommen hat, ist sein Geist »bereit« oder »vorbereitet«, sobald ein radikaler Verfechter auf den Plan tritt.
    Darüber hinaus erschwert es der Automatismus von Lohn und Strafe in der islamischen Lehre, verstärkt durch die Forderung nach bedingungsloser Gruppenloyalität, dem einzelnen Muslim, sich dem radikalen Vertreter zu widersetzen oder ihn nur als verdächtig zu betrachten. Wer sich den Kopf zerbricht, weshalb sich junge Muslime vergleichsweise einfach überreden lassen, den Extremisten zu folgen, muss eben diese Vorstadien genau analysieren. Weil die meisten Politiker und wissenschaftlichen Experten den Islam zu einer friedfertigen Religion erklären und Extremisten in ihren Augen auf Abwege geraten sind, übersehen sie, wie wichtig es ist, den Sozialisierungsprozess eines Muslims oder einer Muslimin unter die Lupe zu nehmen.
    Amerikanische Behörden, Wissenschaftler und Psychologen machen einen großen Fehler, wenn sie versuchen, einen umgepolten Geist erst von dem Zeitpunkt an zu verstehen, wo er sich dem radikalen Islam zugewandt hat. Die Radikalisierung erfolgt in Stufen, das ist auch in den Vereinigten Staaten so. Anfangs wird sie als ein Programm für tugendhaftes Benehmen ausgegeben, als Anstand. Dann wird man aufgefordert, andere Muslime ausfindig zu machen, um sich miteinander anzufreunden. Das abschreckende Thema des gewaltsamen Dschihad wird erst in späteren Phasen erörtert. Die Vorgeschichte der Radikalisierung ist eine sanfte Gehirnwäsche in der Unterwerfung (die eigentliche Bedeutung des Wortes »Islam«) von Geburt an.

    Anfang November 2009 hielt ich mich zu mehreren Treffen in New York auf. Genau fünf Jahre zuvor war mein Freund Theo van Gogh in Amsterdam von einem jungen

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