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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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interpretiert. Auf ähnliche Weise vermutete man bei Malik Hasan eine posttraumatische Belastungsstörung nach einem Kampfeinsatz, bis sich herausstellte, dass er nie im Kampfeinsatz gewesen war.
    In beiden Ländern wandte sich die Diskussion dann der Frage zu, wessen Schuld es war, dass die Tat nicht verhindert wurde. In den Niederlanden hatte die Nachrichten- und Sicherheitsbehörde bereits vor dem Mord gegen eine radikalislamische Zelle ermittelt, die sogenannte Hofstad-Gruppe, aber die Ermittler hatten Bouyeris Rolle in der Gruppe falsch eingeordnet. Erst nach dem Mord stellte sich heraus, dass er in Wirklichkeit ihr Anführer war. In Amerika wurde gemeldet, das FBI habe E-Mail-Verkehr zwischen Malik Hasan und seinem Mentor Imam Al Awlaki abgefangen, aber man hatte nichts weiter unternommen.
    Warum, so fragte ich mich, hatten sich alle verschworen, die religiösen Motive für die Morde zu ignorieren? Allmählich wurde mir der wahre Grund klar. Zunächst haben die Nachrichtendienste ein dringendes Bedürfnis, muslimische Agenten und Quellen zu werben, um radikalislamische Netzwerke zu infiltrieren. Da sich alle Muslime von dem Vorwurf, der Islam sei eine gewalttätige Religion, beleidigt fühlen, gilt die offizielle Linie, das nicht offen auszusprechen. Im Militär ist es genauso: Amerikanische Soldaten und ihre Verbündeten ziehen nicht an Orte wie Irak und Afghanistan, um Männer in Uniform zu bekämpfen, die sie eindeutig als den Feind identifizieren können. Ihre Mission ist derzeit ein komplexes Gemenge aus Kämpfen, Polizeiarbeit, gesellschaftlichen Funktionen und »Staatsaufbau«. Auch sie sind dringend auf die Kooperation der Einheimischen angewiesen, und das heißt überwiegend auf Muslime. Somit hält sich das Militär an die gleiche Linie wie die Nachrichtendienste: Weder die islamischen Schriften noch der Prophet noch der Koran liefern die Argumente für den Dschihad, sondern man hat es mit ein paar fehlgeleiteten Anführern zu tun, die sich die reine und friedliche Lehre des Islam angeeignet haben.

    An dem Donnerstag nach der Schießerei nahm ich einen Flug von New York nach Boston. Alle Fernsehbildschirme am Gate zeigten das Bild von Nidal Malik Hasan. Eine Frau neben mir schaute stirnrunzelnd auf den Bildschirm.
    »Machen Sie sich Sorgen wegen Terroranschlägen?«, fragte ich.
    »Ja«, erwiderte sie, »aber sie haben es mit Amerika zu tun, und sie werden nicht siegen.«
    »Aber er war beim Militär«, sagte ich, »ein Feind von innen.«
    Sie zögerte ein bisschen und sagte dann einen Satz, den ich eigentlich von Politikern erwartet hätte.
    »Wir schätzen die Vielfalt in unserem Land hoch«, sagte sie, kurz bevor wir von dem Aufruf, an Bord zu gehen, unterbrochen wurden.
    Vielfalt ist eine wunderbare Sache, dachte ich, und E pluribus unum (»aus vielen eines«) lautet der Wahlspruch auf dem Großen Staatssiegel der Vereinigten Staaten (und damit auf jeder Dollarnote). Aber die Amerikaner müssen noch viel lernen, ehe sie wirklich erkennen, welche Gefahr ihnen vom radikalen Islam droht – von einer Religion, die nicht nur die Grundprinzipien der Aufklärung ablehnt, die die Gründerväter der Staaten bewegt hatten, sondern eben die Vorstellung, dass aus vielen verschiedenen Einheiten ein vereintes Volk entstehen soll.
    * Alle Zahlenangaben aus Integration of the Human Rights of Women and the Gender Perspective/Violence Against Women (2003): Bericht der Sonderberichterstatterin zu Gewalt gegen Frauen, ihren Ursachen und Folgen, Ms. Radhika Coomaraswamy, vorgelegt entsprechend Resolution 2002/52 der Kommission für Menschenrechte.

Teil drei
SEX, GELD, GEWALT

Kapitel elf
SCHULE UND SEXUALITÄT
    Ich war etwa fünf Jahre alt, als meine Großmutter anfing, mich morgens früh zu wecken, manchmal, indem sie mich mit einem Stock anstupste, manchmal, indem sie einfach laut meinen Namen rief. Sie wollte mir beibringen, das Feuer anzufachen und für die Erwachsenen Tee zu kochen. »Wach auf!«, schrie sie. »In deinem Alter haben meine Töchter zu dieser Tageszeit schon die Ziegen gemolken und hinaus auf die Felder geführt, und du schaffst es nicht einmal, aufzustehen!«
    Also schürte ich das Feuer. Schlaftrunken ging ich zum Holzkohlebecken in dem Raum, den meine Mutter mehr oder weniger willkürlich zur Küche bestimmt hatte. Die Wände waren vom Ruß ganz schwarz. Da die Tür und die Fensterläden offen standen, drang das Licht des frühen Morgens herein. Ich nahm meinen Holzschemel und trug ihn zum

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