Ich Bin Gott

in ihr bürgerliches Leben zurückgekehrt waren. Mein Bruder hat das mehrfach erlebt.«
    Vivien spürte, dass der Geist von Robert Wade keine Spuren mehr in Russells Stimme hinterließ. Sie blickte ihn an und stellte fest, dass auch seine Augen verändert waren. Ihr Herz tat einen freudigen Satz, aber schon wurde sie wieder von der Geschichte eingeholt, die ihnen gegenwärtig zu schaffen machte.
    Russell fuhr mit seinen Schlussfolgerungen fort, ohne etwas von alledem bemerkt zu haben.
    » Leider ist eines klar. Derjenige, der den Brief geschrieben und die Minen gelegt hat, muss große psychische Probleme gehabt haben, und sein Sohn hat sie wohl doppelt und dreifach geerbt. Aus dem Brief ist herauszulesen, dass er seinen Vater nie kennen gelernt hat, weil der sich seinem Sohn erst nach seinem Tod zu erkennen gegeben hat. Ich frage mich, warum.«
    Russell machte eine Pause und ließ die Frage, deren Beantwortung so wichtig war, im Raum stehen.
    Als sollte den Anwesenden eine Gedankenpause gegönnt werden, begann das Telefon auf dem Schreibtisch zu klingen. Der Captain streckte die Hand aus und nahm den Hörer.
    » Bellew.«
    Er lauschte schweigend. Vivien und Russell sahen, wie sich seine Kiefermuskulatur verkrampfte. Er legte auf, und es war ihm anzumerken, dass er das Telefon am liebsten an die Wand geworfen hätte.
    » Das war der Chef der Sprengstoffexperten, die den Trümmerhaufen am Hudson untersucht haben.«
    Er machte eine Pause. Dann sagte er, was alle erwartet hatten.
    » Er war’s. Derselbe Sprengstoff, dieselbe Zündvorrichtung.«
    Russell stand auf, als hätte er nach dieser Bestätigung das Bedürfnis, sich zu bewegen.
    » Mir ist etwas in den Sinn gekommen. Ich bin zwar kein Experte, aber wenn dieser Mann beschlossen hat, das Vorhaben seines Vaters in die Tat umzusetzen, muss er in jedem Fall ein Psychopath oder so sein. Mit allem, was dazugehört.«
    Er drehte sich um und sah Vivien und Bellew an.
    » Ich habe gelesen, dass sich bei solchen Leuten der Impuls normalerweise in einem ganz präzisen Rhythmus wieder auflädt. Dieser Mechanismus führt zu einem repetitiven Verhalten. Die erste Explosion war am Samstagabend, die zweite in der Nacht von Montag auf Dienstag. Dazwischen sind etwa drei Tage vergangen. Wenn dieser Verrückte den zeitlichen Abstand zwischen den Explosionen fixiert hat, dann haben wir drei Tage Zeit, ihn zu fassen, bevor er erneut zuschlägt. Man darf gar nicht daran denken, was …«
    Er ließ diesen Satz zunächst offen, beendete ihn dann aber doch und fasste die Dramatik der Lage in Worte.
    » Man darf gar nicht daran denken, was alles passieren könnte, wenn es noch eine Explosion gäbe. Vielleicht sogar in einem Hochhaus, in dem Tausende von Männern und Frauen arbeiten.«
    Dann fügte er noch die schlimmste aller Möglichkeiten hinzu.
    » Und ganz besonders darf man nicht daran denken, dass er beschließen könnte, alle Gebäude an ein und demselben Tag hochgehen zu lassen.«
    Vivien sah, dass der Captain Russell anstarrte, als würde er sich immer noch fragen, wer dieser Typ war und was er in seinem Büro verloren hatte. Ein Zivilist diskutierte mit ihnen über Fragen, die normalerweise nur die Polizei etwas angingen. Die Situation war absurd, in ihrer Logik jedoch perfekt austariert. Drei Menschen waren aneinandergekettet durch ein Geheimnis, das auf keinen Fall an die Öffentlichkeit geraten durfte, was aber auch keiner von ihnen wollen konnte.
    Bellew stand auf und stützte sich mit geballten Fäusten auf den Schreibtisch.
    » Wir brauchen dringend einen Namen zu diesen Fotos. Leider können wir sie nicht veröffentlichen, nach dem Motto › Wer kennt diesen Mann? ‹ . Wenn der Sohn sie sähe, würde ihm klar, dass wir ihm auf der Spur sind. Er würde in Panik geraten und schnell alle Sprengsätze zünden.«
    Vivien wurde bewusst, dass sie über zwei Unbekannte redeten und sie Vater und Sohn nannten. Wie zum Hohn tauchten Erinnerungen aus ihrer Kindheit auf und unterstrichen die tragische Ironie der Situation.
    Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
    Das Bild von einem Mädchen in einer weihrauchgeschwängerten Kirche wurde von den Bildern brennender Gebäude und von Krankenwagen mit Verletzten darin allerdings schnell wieder verdrängt.
    Es klopfte. Bellew bat die Person, die man hinter der Milchglasscheibe sehen konnte, herein. Mit einer Mappe in der Hand betrat Detective Tyler das Büro. Er war unrasiert und seine Kleidung zerknittert, als hätte er