Ich Bin Gott
Was ihnen fehlte, war Zeit. Wenn er richtig gerechnet hatte, würde die nächste Explosion in der kommenden Nacht stattfinden. Und wieder würde es Bilder geben, wie sie das Fernsehen und die Zeitungen nach den anderen Attentaten gezeigt hatten. Er drehte sich zu Ben um, der seine Bedrängnis sah, aber abgewartet hatte, bis Russell aus seinen Grübeleien aufgetaucht war.
» Mir ist noch etwas eingefallen, Russell. Ich weiß allerdings nicht, ob es sich lohnt, dem nachzugehen.«
» In einem solchen Fall darf man nichts außer Acht lassen.«
Der Alte betrachtete eine Weile seine Hände mit den Altersflecken. In seine Handflächen hatten sich sämtliche Linien seines Lebens eingegraben, und er war sich jeder einzelnen von ihnen bewusst.
» Mein Cousin hat jahrelang das Wonder Theatre hier in Chillicothe geleitet. Eine bescheidene Bühne, vorwiegend für lokale Stücke, Konzerte kleinerer Gruppen und unbekannte Sänger. Hin und wieder kam auch ein Wandertheater und brachte ein bisschen frischen Wind und die Illusion von Kultur hierher.«
Russell wartete in der Hoffnung, dass sein Vorgefühl sich bewahrheiten würde.
» Viele Jahre, nachdem Karen und ihr Sohn weggezogen waren, kam ein Varietétheater in die Stadt. Zauberer, Komiker, Akrobaten und so etwas. Mein Cousin hat geschworen, dass Manuel Swanson unter den Schaustellern sei. Es waren viele Jahre vergangen, und der Mann hatte einen Künstlernamen, doch er glaubte es trotzdem. Er hätte sogar ein hübsches Sümmchen darauf gewettet. Als er den Mann allerdings fragte, ob sie sich schon einmal begegnet seien, hat der verneint und erklärt, dass er das erste Mal in seinem Leben in Chillicothe sei.«
Russell stand auf und strich sich nervös die Hose glatt.
» Das ist schon einmal etwas, aber das erfordert ausgiebige Recherchen. Ich fürchte, die Zeit haben wir nicht.«
» Würde ein Foto von dem Mann helfen?«
Russell fuhr herum um und sah ihn an.
» Das wäre natürlich das Allerbeste.«
» Warte.«
Ben Shepard stand auf und ging zu einem schnurlosen Telefon, das auf einer Kommode lag. Er tippte eine Nummer ein und wartete.
» Hallo, Homer. Ich bin’s, Ben.«
Er lauschte einen Augenblick.
» Nein, keine Sorge. Natürlich komme ich heute Abend zum Bowling. Ich rufe wegen etwas anderem an.«
Er wartete, bis sich die Person am anderen Ende der Leitung beruhigt hatte.
» Homer, erinnerst du dich an die Geschichte, die du mir über den jungen Swanson und diese Theatergruppe erzählt hast?«
Da Russell nichts verstehen konnte, musste er sich gedulden.
» Hast du das Material noch bei deinen Sachen?«
Die Antwort fiel offenbar kurz aus, denn Ben sprach sofort weiter.
» Sehr gut. Ich schicke dir jemanden vorbei. Er heißt Russell Wade. Tu alles, worum er dich bittet. Falls du ihm nicht vertraust, tu es mir zuliebe.«
Der Cousin schien zu protestieren und nach Erklärungen zu verlangen, doch Ben Shepard schnitt ihm das Wort ab.
» Tu es einfach. Bis heute Abend, Homer.«
Er beendete das Gespräch und drehte sich zu Russell um.
» Mein Cousin hat die Plakate von allen Künstlern, die in seinem Theater aufgetreten sind, aufbewahrt. Immer ein Exemplar, wie eine Art Sammlung. Ich glaube, er möchte irgendwann ein Buch darüber schreiben. Von dem Mann, den du suchst, hat er auch eins.«
Er nahm einen Block und einen Kugelschreiber, die neben dem Telefon lagen, und schrieb einen Namen und eine Adresse auf. Dann riss er das Blatt ab und gab es Russell.
» Hier ist die Adresse. Mehr kann ich nicht tun.«
Russell nahm den Zettel. Dann folgte er einem Impuls und umarmte Ben Shepard. Die Geste war so aufrichtig und gefühlvoll, dass Bens Überraschung sofort beiseitegewischt war. Russell hoffte, dass später, wenn Ben wieder allein sein würde, auch die Reue verschwand.
» Ich muss jetzt gehen, Ben. Du weißt gar nicht, wie dankbar ich dir bin.«
» Doch, das weiß ich. Und ich weiß auch, dass du ein feiner Mensch bist. Viel Glück bei der Suche, in jeglicher Hinsicht.«
Ben Shepard hatte wieder feuchte Augen, doch ihr Händedruck war fest und trocken und gleich darauf schon eine Erinnerung, die sie lange bewahren würden. Russell ging durch den Garten auf das Auto zu. Während er das Navigationssystem mit der Adresse fütterte, die ihm Ben gegeben hatte, sagte er sich, dass er die Sache nicht allein würde bewältigen können. Er würde Polizeikräfte brauchen, die ihn bei den Ermittlungen unterstützen würden. Deswegen musste er, sobald er das
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