Ich Bin Gott
sie sich jedes Mal als schwaches verängstigtes Menschenwesen gefühlt hatte. Dieser Ort, diese Bilder, dieses tiefe Bedürfnis der Menschen nach Heiligkeit, dieses Licht der Kerzen, die aus Glauben und Hoffnung angezündet worden waren, halfen ihr nicht, auch nur ein kleines bisschen von diesem Glauben und dieser Hoffnung zu teilen.
Das Leben ist nur gemietet. Und Gott im Haus zu haben, ist manchmal unbequem.
Vivien setzte sich in eine der hintersten Bänke. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie in dieser Kirche, die für die Gläubigen ein Ort des Friedens und der Erlösung war, eine Pistole trug. Und sich trotzdem wehrlos fühlte.
Sie schloss die Augen. Aus dem Dämmerlicht wurde Dunkelheit. Und während sie auf ihre Nichte Sundance wartete, kamen die Erinnerungen. Der Tag, an dem …
… sie an ihrem Schreibtisch saß, genau vor dem Plaza, mitten im Chaos. Papiere, Telefonate, Verbrechen von schlechten Menschen mit schlechten Leben, die müßigen Gespräche ihrer Kollegen. Wie in einer Filmsequenz, die sie nie vergessen würde, kam Detective Peter Curtin durch die Tür, die zur Treppe führte. Peter war bis vor einiger Zeit im 13 . Distrikt gewesen. Dann war er bei einer Schießerei während eines Einsatzes ziemlich schwer verletzt worden. Körperlich hatte er sich wieder erholt, doch in psychischer Hinsicht war er nicht mehr derselbe gewesen. Auch auf Drängen seiner Frau hin hatte er um Versetzung auf einen ruhigeren Posten gebeten und war jetzt bei der Sitte.
Er kam direkt zu ihrem Schreibtisch.
» Hallo, Peter. Was tust du denn in dieser Gegend?«
» Ich muss mit dir sprechen, Vivien.«
Er klang irgendwie peinlich berührt, und das Lächeln, mit dem sie ihn empfangen hatte, erlosch.
» Natürlich, leg los.«
» Nicht hier. Hast du Lust ein paar Schritte zu gehen?«
Verwundert stand Vivien auf. Kurz darauf waren sie schon draußen auf der Straße. Peter wandte sich in Richtung 3rd Avenue, und Vivien ging neben ihm her. Er versuchte, die Spannung, die in der Luft lag, zu lösen. Ob er das um ihrer oder um seiner selbst willen tat, wusste sie nicht.
» Wie geht es dir? Lässt Bellew immer noch alle springen?«
Vivien blieb stehen.
» Jetzt rede nicht um den heißen Brei herum, Peter. Was ist los?«
Ihr Kollege sah in eine andere Richtung. Es war eine Richtung, die Vivien überhaupt nicht gefiel.
» Du weißt ja, wie das in dieser Stadt ist. Transsex-Dates, Escort-Services jeglicher Orientierung und Hautfarbe. Und achtzig Prozent der Einrichtungen, die als Spa oder Massagesalon geführt werden, sind in Wirklichkeit Stundenhotels. Das ist überall so. Aber wir sind in Manhattan, im Zentrum der Welt, und hier geschieht noch viel Schlimmeres …«
Peter blieb stehen und rang sich endlich dazu durch, ihr in die Augen zu sehen.
» Wir haben einen Tipp bekommen. Ein Luxusschuppen in der Upper East Side. Da gehen Männer hin, denen sehr junge Mädchen gefallen. Manchmal sind es sogar Kinder, jedenfalls alle minderjährig. Wir sind rein und haben ein paar Typen erwischt. Und …«
Er machte eine Pause, und Vivien überkam eine düstere Vorahnung. Mit dünner Stimme brachte sie nur ein Wort hervor.
» Und?«
Die Vorahnung wurde Wirklichkeit.
» Eine von ihnen war deine Nichte.«
Plötzlich drehte sich alles. In ihrem Innern regte sich etwas, das Vivien gern gegen den Tod eingetauscht hätte.
» Ich war es, der in das Zimmer gekommen ist, wo …«
Peter hatte nicht die Kraft weiterzusprechen. Das Schweigen ließ Viviens Fantasie freien Lauf und war schlimmer, als die schlimmsten Worte.
» Zum Glück habe ich sie gleich erkannt. Wie durch ein Wunder konnte ich sie aus dem ganzen Chaos raushalten.«
Peter legte ihr die Hand auf den Arm.
» Wenn diese Geschichte herauskommt, dann schaltet sich die Jugendhilfe ein. Bei einer familiären Situation wie der euren stecken sie das Mädchen garantiert in irgendein Heim, wo sie irgendwelche Therapien machen muss. Sie braucht Hilfe.«
Vivien sah ihm in die Augen.
» Du sagst mir nicht alles, Peter.«
Eine kleine Pause trat ein, dann kam die Antwort, die er nicht geben und die sie nicht hören wollte.
» Deine Nichte nimmt Drogen. In einer ihrer Taschen haben wir Kokain gefunden.«
» Viel?«
» Nicht so viel, um den Verdacht nahezulegen, dass sie dealt. Aber sie muss schon eine ordentliche Menge nehmen, wenn sie so weit geht, dass …«
… sie sich prostituiert, um an Geld zu gelangen, vollendete Vivien im Stillen den Satz.
» Wo ist sie
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