Ich Bin Gott
trotzdem immer wieder den Abzug durchzieht, immer und immer wieder, und nur das leere und trockene Geräusch des Schlagbolzens vernimmt.
Es reicht, verflucht noch mal!
Pünktlich wie eine ausstehende Antwort kam nun von draußen der helle, drängende Klang der Sirenen.
Blitze ohne Zorn.
Gute, heilende, schnelle Blinklichter von Polizei, Feuerwehr, Krankenwagen.
Die Stadt war getroffen, die Stadt war verletzt, die Stadt rief um Hilfe. Und alle liefen herbei, von allen Seiten, so rasch Mitleid und Zivilisation es ermöglichten.
Russell hörte auf zu fotografieren und fand im Lichtschein von draußen die Fernbedienung für den Fernseher. Auf NY 1 lief die Wettervorhersage. Zwei Sekunden später wurde das Programm unterbrochen. Der Mann vor den Karten mit Sonne und Regen wich ohne Ankündigung einer Großaufnahme von Faber Andrews, einem der Moderatoren des Senders. Tiefe Stimme, ernster Blick, Ergriffenheit, nicht berufsbedingt, sondern aus reiner Menschlichkeit.
» Soeben erreicht uns die Nachricht, dass in der Lower East Side von New York City ein Gebäude von einer starken Explosion getroffen wurde. Erste Gerüchte sprechen von einer unbestimmten Anzahl von Opfern, vermutlich ist sie jedoch sehr hoch. Mehr können wir im Augenblick leider noch nicht sagen. Die Ursachen dieses dramatischen Ereignisses sind uns nicht bekannt, aber wir hoffen, dass es nicht allzu schlimme Dimensionen annimmt und keine kriminellen Hintergründe dahinterstecken. Die Erinnerung an schmerzliche Ereignisse in der jüngsten Vergangenheit ist noch allzu lebendig. Die ganze Stadt, ganz Amerika und vielleicht die ganze Welt warten mit angehaltenem Atem auf Neuigkeiten. Unsere Reporter sind auf dem Weg zum Unglücksort, und wir werden Ihnen in Kürze von den neuesten Entwicklungen berichten. Für den Moment war es das erst einmal von uns.«
Russell schaltete auf CNN um. Auch dort wurde die Nachricht gerade verkündet, von anderen Gesichtern, mit anderen Worten, sonst aber wie auf NY 1 . Er schaltete den Ton ab und ließ die Bilder sprechen. So saß er auf dem Sofa, und nur das flaumige Leuchten des Bildschirms leistete ihm Gesellschaft. Die Lichter der Stadt hinter den Fensterscheiben schienen aus der Kälte und aus den Weiten des Weltraums zu kommen. Und dort unten war dieses Licht einer mörderischen Sonne, die alle anderen Sterne zu verschlingen drohte. Als Russell das Apartment von seiner Familie geschenkt bekommen hatte, war es ihm gerade recht gewesen, dass es im neunundzwanzigsten Stock lag, denn von dort genoss er einen herrlichen Blick über Downtown, mit der Brooklyn Bridge und der Manhattan Bridge zur Linken, dem Flatiron Building zur Rechten und dem New York Life Insurance Building unmittelbar gegenüber.
Jetzt war dieser Blick nur ein weiterer Grund zur Sorge.
Alles war so schnell gegangen, seit er nach dieser Nacht aus dem Gefängnis entlassen worden war, und doch spulten sich, wenn er darüber nachdachte, die Bilder in seinem Kopf wie in Zeitlupe ab. Jeder Moment, jede Schattierung, jede Farbe, jedes Gefühl. Als müsste er zur Strafe bis in alle Ewigkeit jeden dieser Augenblicke noch einmal durchleben.
Als wäre er wieder und für immer in Pristina.
Zu Beginn der Fahrt vom Polizeirevier nach Hause hatten sie geschwiegen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte es auch so bleiben können. Anwalt Corneill Thornton, ein alter Freund der Familie, hatte das begriffen und sich eine ganze Weile zurückgehalten.
Dann beendete er die Waffenruhe und ging zum Angriff über.
» Deine Mutter macht sich Sorgen um dich.«
Ohne den Anwalt anzusehen antwortete Russell mit einem Schulterzucken.
» Meine Mutter macht sich immer um irgendetwas Sorgen.«
Die untadelige Figur und das glatte Gesicht von Margareth Taylor Wade erschien vor seinem inneren Auge. Sie gehörte dem gehobenen Bürgertum von Boston an, was auf der Werteskala dieser Stadt als wahre Aristokratie gelten konnte. Boston war die europäischste Stadt der ganzen Ostküste, vielleicht ganz Amerikas, und damit die exklusivste. Und Margareth war eine ihrer herausragendsten Repräsentantinnen. Graziös und elegant schritt sie durch die Welt, und ihr sanftes Gesicht drückte aus, dass sie das, was das Leben für sie bereithielt, nicht verdiente: einer der beiden Söhne während einer Kriegsreportage in Ex-Jugoslawien getötet und der andere Vertreter einer Lebensweise, die ihr, wenn das überhaupt möglich war, noch mehr Schmerz zufügte.
Vielleicht hat sie sich nie davon
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