Ich Bin Gott
Tür. Sundance warf ihre Tasche auf den Rücksitz und setzte sich neben Vivien, die den Motor startete. Sundance’ Frage traf sie unvorbereitet.
» Hast du Mama in letzter Zeit mal besucht?«
Vivien hielt die Luft an. Seit vielen Monaten hatten sie über das Thema nicht mehr gesprochen. Sie wandte sich Sundance zu und sah, dass die aus dem Fenster blickte, als schämte sie sich für die Frage oder als hätte sie Angst vor der Antwort.
» Ja. Ich war dort. Gestern.«
» Wie geht es ihr?«
Wo ist sie, wäre die richtige Frage.
Vivien sprach diesen Gedanken nicht aus. Sie versuchte, ihre Stimme so normal wie möglich klingen zu lassen, und sagte, wie sie es sich vorgenommen hatte, die Wahrheit.
» Nicht gut.«
» Meinst du, ich könnte sie sehen?«
Vivien hatte einen Moment das Gefühl, nicht richtig durchatmen zu können, als wäre die Luft im Auto plötzlich dünn geworden.
» Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Vermutlich würde sie dich nicht erkennen.«
Sundance sah sie jetzt an. Tränen liefen über ihr Gesicht.
» Aber ich erkenne sie, und das genügt mir.«
Vivien wurde plötzlich von einem warmen Gefühl durchflutet. Seit ihre Nichte in diese schlimme Geschichte verwickelt gewesen war, sah sie sie zum ersten Mal weinen. Sie wusste nicht, ob sich Sundance, wenn sie allein war, in den illusorischen Trost der Tränen flüchtete. Vivien und anderen gegenüber hatte sie jedenfalls noch nie die Kontrolle verloren, als hätte sie eine Mauer zwischen sich und ihrem Menschsein errichtet, um den Schmerz auszusperren.
Plötzlich sah Vivien wieder das kleine Mädchen von früher vor sich, all die schönen Augenblicke, die sie zusammen erlebt hatten. Sie beugte sich zu Sundance hinüber und nahm sie in den Arm, um all die schlimmen Augenblicke, die sie beide vergessen mussten, auszulöschen. Sundance gab sich dieser Umarmung hin, und so blieben sie lange sitzen und überließen sich dem Strom der Gefühle. Es war, als kämen sie beide von einer langen Reise zurück.
Vivien hörte die schluchzende Stimme ihrer Nichte irgendwo in ihren Haaren.
» O Vunny, was ich gemacht habe, tut mir so leid. Es tut mir so leid. Das war nicht ich, das war nicht ich, das war nicht ich …«
Sie wiederholte diesen Satz, bis Vivien sie noch fester an sich drückte und ihr eine Hand auf den Kopf legte. Vivien wusste, dass dies ein wichtiger Augenblick für sie beide war, und betete zu der Instanz, die für die menschliche Existenz zuständig war – welche auch immer das sein mochte –, dass sie jetzt die richtigen Worte fand.
» Schschsch. Jetzt ist alles vorbei. Alles ist vorbei.«
Sie wiederholte den Satz, um Sundance zu überzeugen, aber auch, um sich selbst zu überzeugen.
Vivien hielt ihre Nichte so lange fest, bis das Schluchzen verebbte. Als sie sich aus der Umarmung gelöst hatten, beugte Vivien sich vor, holte eine Schachtel Kleenex aus dem Handschuhfach und hielt sie ihrer Nichte hin.
» Hier. Wenn wir so weitermachen, ist das Auto bald ein Schwimmbad.«
Den Scherz machte sie, um die Spannung abzubauen und ihren neuen Pakt zu besiegeln. Mit der Andeutung eines Lächelns nahm Sundance ein Taschentuch und wischte sich die Augen trocken.
Vivien tat dasselbe.
Dann sprach Sundance überraschend entschlossen weiter.
» Da war ein Mann.«
Vivien wartete. Schweigend. Sie wusste, dass sie jetzt keine Ungeduld zeigen oder ihre Nichte drängen durfte. Das war jedoch gar nicht nötig.
Sundance sprach einfach weiter. Jetzt, da die Mauer eingerissen war, kam all das Finstere, das sich dahinter versteckt hatte, zum Vorschein.
» Einer, den ich kennen gelernt habe und der mir Sachen gegeben hat. Einer, der diese … diese … der das organisiert hat …«
Die Stimme des Mädchens brach ab. Vivien begriff, dass es für sie immer noch schwer war, bestimmte Wörter oder Ausdrücke zu benutzen.
» Erinnerst du dich an seinen Namen?«
» Seinen richtigen Namen kenne ich nicht. Alle haben ihn Ziggy Stardust genannt. Das war aber vermutlich ein Spitzname.«
» Weißt du, wo er wohnt? Hast du eine Telefonnummer?«
» Nein. Ich habe ihn nur einmal gesehen. Danach hat immer er mich angerufen.«
Vivien atmete tief ein, um ihr Herzklopfen zu beruhigen. Sie wusste, womit sie in den nächsten Tagen zu kämpfen haben würde. Mit ihrem Zorn und mit ihrem Instinkt. Mit dem Wunsch, dieses Schwein aufzuspüren und ihm ein ganzes Magazin in den Kopf zu schießen.
Sie sah ihre Nichte an. Über dem Blick, dem sie begegnete,
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