Ich Bin Gott
er vom ersten Moment an faszinierend und anziehend gefunden hatte. In einem Maße, dass er manchmal weggehen musste, weil er befürchtete, man könne ihm seine Gefühle ansehen. Er schloss den Kleiderschrank wieder, trat dann zum Bett, strich mit der Hand über die Decke und streckte sich bäuchlings darauf aus. Er presste sein Gesicht auf die Stelle, wo Pater McKeans Kopf auf dem Kissen gelegen hatte, und atmete tief ein. Manchmal, wenn er allein war und an Michael dachte, wollte er einfach nur bei ihm sein. Andere Male, wie jetzt, wünschte er sich, Michael selbst zu sein. Und er war überzeugt davon, dass ihm das früher oder später gelingen würde, wenn er hierbliebe …
Irgendwo in seiner Tasche klingelte sein Handy. Hastig sprang er auf, als bedeutete dieser Ton, dass die Welt ihn entdeckt hatte. Mit fiebrigen Händen tastete er nach dem Handy und ging dran.
» John, ich bin’s, Michael. Ich bin auf dem Rückweg. Paul liest an meiner Stelle die Messe.«
John war peinlich berührt, als könnte sein Gesprächspartner sehen, wo er sich befand. Und obgleich die Stimme am anderen Ende der Leitung durch seine eigene Verwirrung gefiltert wurde, konnte er nicht jene darin erkennen, die er für gewöhnlich mit Michaels Gesicht verband. Es war die Stimme eines gebrochenen oder verängstigten Mannes. Vielleicht sogar beides.
» Mike, was ist los? Geht es dir gut? Ist irgendetwas passiert?«
» Mach dir keine Sorgen, es ist nichts passiert. Ich bin bald da.«
» In Ordnung, dann bis gleich.«
John schaltete das Handy aus und betrachtete es, als könnte er so die Worte dechiffrieren, die er soeben gehört hatte. Er kannte Michael McKean gut genug, um zu wissen, dass ihm etwas zu schaffen machte, wenn er derart verwandelt schien.
Als er ihn gefragt hatte, ob etwas geschehen sei, hatte er verneint. Seine Stimme hatte sich allerdings angehört, als wäre ihm etwas Grauenhaftes begegnet. John verließ das Zimmer, das nun seine Faszination verloren hatte, und zog die Tür hinter sich zu. Auf dem Weg die Treppe hinunter gelang es ihm nicht, das Gefühl abzuschütteln, nutzlos und einsam zu sein.
16
Die Gabel tauchte in das kochende Wasser und fischte zwei Spaghetti heraus.
Vivien ließ sie einen Moment auskühlen und probierte dann. Halb gar, genau richtig. Sie goss die Pasta ab und gab sie zur Soße, die schon in der Pfanne bereitstand. Dann drehte sie die Flamme noch einmal hoch und ließ die überschüssige Flüssigkeit verdunsten, bis schließlich alles die richtige Konsistenz hatte, so wie ihre Großmutter es ihr gezeigt hatte. Die hatte sich, im Gegensatz zum Rest der Familie, nie damit abgefunden, dass sich ihr Nachname im Laufe der Zeit von Luce zu Light verwandelt hatte. Vivien stellte die Pfanne auf einen Untersetzer und verteilte die Nudeln mit einer Spaghettizange auf zwei Teller, die neben dem Herd auf der Kochinsel standen.
Sie hielt es nicht für notwendig, sich zum Essen an den Tisch zu setzen, daher hatte sie zwei Bambussets auf den Küchentresen gelegt und dort gedeckt.
Nun rief sie nach ihrer Nichte, die hinten im Schlafzimmer war.
» Das Essen ist fertig!«
Mit vom Duschen noch nassen Haaren erschien Sundance im Wohnzimmer von Viviens kleinem Apartment. Im Licht, das durch das Fenster fiel, sah sie sogar in Jeans und T-Shirt wie eine Königin aus. Obgleich sie auch Züge von ihrem Vater hatte, war sie vor allem das Ebenbild ihrer Mutter.
Schön, schmal und zerbrechlich.
Schwer zu verstehen und leicht zu verletzen.
Vivien spürte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte. Manchmal löste sich der Schmerz ganz plötzlich auf wie ein Blutgerinnsel und durchflutete sie. Es war die Trauer über alles, was gewesen war, und das Bedauern über das, was hätte sein können, vom Schicksal aber verhindert worden war. Es war das Hohngelächter über jene wenigen Augenblicke, in denen sie gedacht hatte, das Leben sei schön. Über die Träume all derer, die im Niemandsland verschwunden waren.
Dennoch lächelte sie ihre Nichte jetzt an.
Sie durfte der Trauer über das Verlorene keinen Raum geben, damit sie ihr nicht das Gefühl dafür nahm, was noch zu retten war. Sie durfte nicht gefährden, was an Neuem und Beständigem in jenem Stück Zukunft lag, das ihr noch zustand. Die Zeit heilt nicht immer alle Wunden, doch es würde schon reichen, wenn sie nicht noch weitere aufriss. Für alles andere würde sie, Vivien, sorgen, soweit es in ihrer Macht stand. Nicht um ihre permanenten Schuldgefühle zum Schweigen
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