Ich bin kein Berliner
Chaussee sogar alle anderen Vogelarten verdrängt haben und nun die Ränder von Lichtenberg dominieren. Und das ist wiederum das Gute an einer Großstadt – dass hier jede Fauna ein kleines Streifchen Erde für sich findet, wo sie dann weiter wachsen und gedeihen kann. Wenn sie nicht von einem Laster überfahren wird.
TIPP:
Im Treptower Park singen inzwischen sechsunddreißig Nachtigallen. Eine davon, die die FU-Ornithologen »Peking« nennen, ist bereits zum sechsten Mal aus Afrika dorthin zurückgekehrt. Ein Rekord. Im Dahlemer Botanischen Garten hat man die Wende zur ökologischen Schädlingsbekämpfung vollzogen. Die Botaniker ersetzten die Chemikalien in den großen Gewächshäusern durch ausländische Vögel, Kröten, Spinnen und Eidechsen, die man jedoch meist nur auf den Schildern sieht.
Deutsche Zeitzonen
Bin ich etwa zu schnell? Seit fünf Jahren mache ich den Job eines deutschen Schriftstellers, und trotzdem fragen mich die Leser in der Provinz jedes Mal, warum ich nicht auf Russisch schreibe. Weil hier niemand Russisch versteht, erkläre ich. Damit sie mich im Original lesen können, damit wir miteinander sprechen können. Ich bin ein deutscher Autor, ich habe keine einzige Zeile in einer anderen Sprache verfasst. Hier sind meine Bücher und hier mein Pass. Das Publikum lächelt und weigert sich beharrlich, mich als deutschen Autor zu akzeptieren. Mal stellt es mir unauffällig eine Flasche Wodka aufs Lesepult, mal einen Samowar. Oder es will mir seine Lieblingsmatroschkas schenken.
Dieser Affenzirkus nimmt kein Ende. In Weimar wurde ich am Bahnhof von einem russischen Rentnerchor empfangen und in dem schicken Fünf-Sterne-Hotel Russischer Hof einquartiert. Nicht irgendwo im Keller, sondern in dem berühmten Zarenzimmer im vierten Stock.
»Viele herausragende Persönlichkeiten, die unsere Stadt besucht haben, haben hier übernachtet«, erzählte mir die Hotelchefin. »Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart, Horst Köhler mit Gattin …«
Die Liste der namhaften Gäste hing vor dem Zarenzimmer im Korridor. Als letzter Gast hatte sich dort Michail Gorbatschow eingetragen. Eine tolle Gesellschaft, dachte ich, auf dem Zarenklo sitzend. Aus Langeweile machte ich den Jacuzzi an. Die Pressluft schäumte ein Bündel knallroter Haare an die blubbernde Wasseroberfläche, die gar nicht nach Gorbatschow aussahen, auch nicht nach Horst Köhler mit Gattin. Vielleicht waren sie von Johann Sebastian Bach? Er musste aber unter einem bedenklichen Schamhaarausfall gelitten haben. Schnell einsammeln und bei eBay anbieten!, überlegte ich kurz, verwarf diese Geschäftsidee dann wieder. Das ist die Langsamkeit der Provinz, beruhigte ich mich im Zarenjacuzzi liegend. Früher oder später werden sie kapieren, dass ich keine Matroschka bin. Die Menschen hier sind einfach nur einen Tick langsamer. Sie laufen langsamer, reden langsamer, und sie denken auch langsamer. Sogar die automatischen Türen gehen in den Kleinstädten langsamer auf, mit einer geschätzten Vier-Sekunden-Verzögerung, damit die Bewohner noch durchkommen. Ich aber als hektischer Berliner knallte an einem Tag gleich dreimal mit dem Kopf gegen die Glastür – zweimal am Bahnhof mit dem Chor, einmal im Hotel.
Bei den Lesungen außerhalb Berlins versuche ich stets, langsamer zu sprechen und längere Pausen zu machen. Und trotzdem komme ich mir viel zu schnell vor. Es gibt in Deutschland zwei Zeitzonen: die Berliner Schnellzeitzone und die langsame Zone drum herum. Die langsame beginnt gleich in Brandenburg. Dort hatten zwei alte Kumpel von mir neulich die gute Geschäftsidee, ihr Grundstück zu einer Weinbergschnecken-Farm umzubauen. Sie meldeten sich in Frankreich für einen Schneckenzüchter-Workshop an, kauften dort anschließend sechstausend unterkühlte Weinbergschnecken und brachten sie nach Brandenburg. Die aufgetauten Weinbergschnecken sollten sich in einem alten ausgetrockneten Pool hemmungslos vermehren und meine Freunde reich machen. Stattdessen hauten sie alle ab. Die beiden Züchter kamen zu mir in die Disko und erzählten, sie hätten die Tierchen komplett unterschätzt. Die Schnecken waren nicht so dumm, wie sie aussahen. Kaum aufgetaut, krochen sie schon aus dem Pool und verschwanden in der Wüste Brandenburgs. Schnell wie eine Rakete, beschwerte sich mein Freund. Er war nur kurz aus dem Haus gegangen, um eine Zeitung zu holen, und als er wiederkam, waren alle weg. Noch Wochen danach hätten die Vögel im Garten alle rot
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