Ich bin kein Berliner
versucht draußen ein musikalischer Kleinbetrieb, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Direkt mir gegenüber vermarkten unter einer U-Bahn-Brücke fünf Musiker ihren Rock’n’Roll an das vorübergehende Publikum. Dieses Kleinkollektiv ist durch die Persönlichkeit seines Trompeters vielleicht sogar zu stark geprägt. Der Trompeter übertreibt es deutlich mit seiner Eigeninitiative und Risikobereitschaft, er bläst dermaßen schräge Töne, dass die Fußgänger vor lauter Angst zur Seite springen oder bei Rot über die Straße laufen. Die Arbeit in einem mittelständischen Betrieb ist ohne Rücksicht auf die Kollegen nicht denkbar. Bald wird es auch unter dieser U-Bahn-Brücke Entlassungen geben.
TIPP
In Berlin-Marzahn, im Gewerbegebiet an der Rhinstraße, befindet sich die erste große Vietnamesen-Markthalle, das Asiatische Handelskontor. Hier werden Tonnen von Plastikblumen, kleinen Hundestatuen, Turnschuhen, Feuerzeugen und lebenden Krebsen aus Brandenburg vermarktet. Es fällt auf, dass viele Vietnamesen, die dort arbeiten, eine deutsche Freundin haben. In einer der Kantinen kochen die Frauen deutsch-vietnamesisch: Suppe mit Glasnudeln und Wurst beispielsweise. Ausgehend von der Marzahner Großmarkthalle haben sich neuerdings im Bezirk Lichtenberg zwei neue noch größere Asia-Großmärkte angesiedelt: das China Trade Center an der Ecke Herzberg- und Vulkanstraße und das International Trade Center mit Pagode in der Marzahner Straße.
Berliner Fauna
Wer in einer Großstadt aufwächst, hat kaum Zugang zur Tierwelt. Wenn zum Beispiel meine Kinder in den Zoo gehen, sind sie ziemlich misstrauisch den dortigen Bewohnern gegenüber. Die staubigen Kamele, die ständig um sich kackenden Elefanten und die müffelnden Löwen nehmen sie als Lebewesen fast gar nicht wahr. Viel vertrauter wirken auf sie dagegen die alten Bekannten aus dem Fernsehen: die mutige Biene Maja und der junge intelligente Hirsch Bambi oder die anderen sprechenden Tiere aus den Kinderbüchern. Sie sehen gut aus, tragen saubere Unterwäsche und riechen nicht nach vergammelten Fritten.
Deswegen haben meine Kinder von ihrem letzten Zoobesuch nur solche Erinnerungen behalten, die nichts mit der Fauna zu tun haben. Mein dreijähriger Sohn schwärmte noch lange von einem großen verrosteten Rohr, das dort in einer Ecke lag und in das er hineinkroch. Und meine Tochter war stärker von der U-Bahn-Fahrt und der Fahrkartenkontrolle beeindruckt als von den Tieren im Zoo.
Mehr Herz für Tiere kann man von den Großstadtkindern kaum erwarten, denn in ihrem Alltag treffen sie so gut wie nie aufeinander. Die Fauna bei uns im Prenzlauer Berg ist recht karg. Es gibt dort nichts außer ein paar Heuschrecken und Ratten am Arnimplatz, die vom dortigen Alkoholiker-Verband ernährt werden, und ein paar platt gefahrenen Tauben auf der Schönhauser Allee, die man den Kindern am besten gar nicht zeigen sollte, weil sie ihre ursprüngliche Form längst verloren haben und zum Zweck der Tierweltaufklärung nicht mehr taugen. Darüber hinaus kann man an manchen sonnigen Tagen mit Glück ein oder sogar mehrere Kaninchen im Ernst-Thälmann-Park an der S-Bahn-Kurve erwischen. Doch diese Tiere sind dort nicht von Natur aus zu Hause. Sie werden von den zahlreichen Kanincheninhabern des Bezirkes dort hingebracht, die einfach zu viele davon haben oder keinen Platz mehr auf dem Balkon. Im Ernst-Thälmann-Park vermehren sich die überflüssigen Kaninchen munter weiter. Immer wieder beobachte ich hier außerdem einen fetten Wellensittich, der auf dem Asphalt sitzt. Diese kleinen niedlichen Wesen neigen dazu, aus den Fenstern zu fallen. Wahrscheinlich wollen sie sich selbst und anderen beweisen, dass sie fliegen können. Und oft stimmt es sogar, sie können es. Nur wohin? Also sitzen sie da und überlegen. Sofort umkreisen Dutzende hungriger Spatzen einen solchen Wellensittich. Sie meinen es nicht gut mit ihm.
Um in Prenzlauer Berg als Vogel zu überleben, muss man klein, schnell und asphaltgrau sein, keine Angst vor der Straßenbahn haben und im Flug einem Fußgänger einen halben Kilo schweren Döner Kebap aus den Händen reißen können. Das kann ein Wellensittich einfach nicht. Diese bunten Exoten haben auf der Straße keine Chance. Deswegen fliegen sie, wenn sie nicht dumm sind, zu den Rieselfeldern am Rand der Stadt und bilden dort Schwärme. Mein Freund und Kollege Helmut Höge erzählte mir neulich, dass die wild gewordenen Wellensittiche an der Falkenberger
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