Ich bin kein Serienkiller
nicht hinaus, hoffentlich kommt der Brief rechtzeitig an, hoffentlich platzt der Scheck nicht.«
»Kennst du sie?«, fragte Neblin.
»Nein«, antwortete ich, »aber wenn sie um vier Uhr nachmittags in diesem Stadtteil zu Fuß unterwegs ist, kann sie nicht uferlos viel vorhaben – wahrscheinlich wollte sie nichts abholen, weil sie nichts außer ihrer Handtasche bei sich hat. Also wollte sie vermutlich zur Bank oder zum Postamt.« Ich unterbrach mich und sah Neblin an. Bisher hatte ich vor ihm noch nie ausführlich über meine Beobachtungen gesprochen, denn meine Regeln hatten es mir verboten, so intensiv über eine Fremde nachzudenken. Ich hätte ihm gern vorgeworfen, dass er mich hereingelegt hatte, aber er hatte nichts getan, er hatte mich einfach nur reden lassen. Ich beobachtete seine Augen und suchte nach einem Anzeichen dafür, dass er die Bedeutung meines Verhaltens erkannte. Doch er erwiderte meinen Blick und dachte nach. Er analysierte mich.
»Gut geraten«, sagte Neblin. »Ich kenne sie auch nicht, aber ich möchte wetten, dass du weitgehend richtig liegst.« Er wartete auf irgendetwas. Darauf, dass ich zugab, was ich getan hatte, oder dass ich ihm verriet, warum meine Regeln sich inzwischen verändert hatten. Ich schwieg.
»Die letzte Meldung über die Morde am Wochenende besagt, bei der Notrufzentrale sei ein Anruf eingegangen.«
Oh.
»Anscheinend hat jemand von einem Münztelefon aus angerufen, offenbar ganz in der Nähe auf der Main Street, und einen Angriff des Clayton-Killers gemeldet. Jetzt heißt es, der Mörder habe Greg Olson erwischt, ein Zeuge habe angerufen, und als die Zentrale die Polizisten schickte, habe der Killer auch sie umgebracht.«
»Das habe ich noch nicht gehört«, antwortete ich. »Aber es klingt einleuchtend. Weiß man schon, wer angerufen hat?«
»Anscheinend wollte er seinen Namen nicht nennen«, antwortete Neblin. »Oder sie wollte es nicht. Die Stimme war hoch, deshalb glaubt man, es müsse eine Frau oder ein Kind gewesen sein.«
»Hoffentlich war es eine Frau«, sagte ich.
Neblin zog eine Augenbraue hoch.
»Was immer an diesem Abend geschehen ist«, erklärte ich, »ein solcher Anblick sollte einem Kind erspart bleiben. Das könnte ein Kind ganz schön durcheinanderbringen.«
ELF
Mr Crowley stand jeden Morgen um halb sieben auf. Er brauchte keinen Wecker, sondern wurde von selbst wach. Nachdem er jahrzehntelang Tag für Tag zur Arbeit gegangen war, hatte er sich so an diese Uhrzeit gewöhnt, dass ihm das Aufstehen zur zweiten Natur geworden war. Auch jetzt noch, nachdem er schon lange im Ruhestand war, konnte er nicht anders. Ich wusste das, weil ich ihn ein paar Tage lang von meinem Fenster auf der anderen Straßenseite aus beobachtete. Ich bemerkte, wann in welchem Raum das Licht anging, und sobald ich den richtigen Platz gefunden hatte, hockte ich mich vor sein Haus und lauschte. Normalerweise wäre das nicht möglich gewesen, denn ich hätte verräterische Fußspuren hinterlassen, aber glücklicherweise hielt irgendjemand Mr Crowleys Gehwege bemerkenswert sauber. So konnte ich kommen und gehen, wie es mir gefiel.
Jeden Morgen um halb sieben wurde Mr Crowley wach und fluchte. Er war zuverlässig wie ein Uhrwerk – er war ein alter ordinärer Kuckuck, nach dem man praktisch die Uhr stellen konnte. Soweit ich es sagen konnte, fluchte er nur zu dieser Tageszeit. Vielleicht half es ihm, seine Gedanken zu ordnen und den Tag frisch zu beginnen, wenn er die dunklen Träume der Nacht zu einem geistigen Spuckeklumpen verdichtete und mit einem einzigen Wort hinausbeförderte. Das Schlafzimmer lag in der hinteren rechten Ecke des Hauses. Nach dem allmorgendlichen Fluch wanderte er im Dunkeln ins Bad und wusch sich vermutlich am Waschbecken das Gesicht. Er schaltete das Licht ein, dann rauschte die Klospülung, und anschließend duschte er heiß, bis das Fenster beschlug. Um sieben Uhr betrat er angezogen die Küche.
Sein Frühstück konnte ich vor allem anhand des Geruchssinns bestimmen. Zuerst der beißende Geruch von Holzkohle in einem schlecht gereinigten Herd, dann der Dampf des kochenden Wassers, zuletzt der würzige Duft von Weizenschrot und Ahornsirup. Dabei bekam ich jedes Mal Hunger. Von meinem Posten am Küchenfenster aus konnte ich, völlig außer Sicht von der Straße, auf einen schmalen Sims klettern, den das Fundament des Hauses bildete, und durch einen Spalt zwischen den Vorhängen seinen Arm beim Frühstücken beobachten. Dieser bewegte sich langsam
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