Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
hatte der Premierminister verkündet, dass das Tal frei von Taliban sei. Er versicherte, dass es wieder Benzin gebe und auch die Banken wieder öffnen würden. Er rief die Menschen aus dem Swat auf zurückzukehren. Etwa die Hälfte der 1 , 8 Millionen Bewohner hatte das Swat-Tal verlassen. Offensichtlich war der Großteil von ihnen nicht überzeugt, dass sie eine sichere Heimkehr erwartete.
Als wir auf unser Haus zusteuerten, in dem wir damals wohnten, waren alle still, selbst mein ewig plappernder kleiner Bruder Atal. Es liegt in der Nähe des Circuit House, in dem man das Armeehauptquartier eingerichtet hatte. Wir fürchteten, es könnte durch den Dauerbeschuss zerstört worden sein. Wir hatten gehört, dass auch viele Häuser ausgeräumt worden waren. Als mein Vater das Tor entriegelte, hielten wir alle den Atem an. Das Erste, was wir sahen, war der Garten: Er war in den drei Monaten völlig verwildert!
Meine Brüder rannten sofort los, um nach ihren Hühnern zu sehen. Sie kamen weinend zurück. Nichts als ein Haufen Federn und die Skelette waren von den Hühnern übrig geblieben. Die Knochen waren ineinander verkeilt, als hätten die Tiere sich im Tod umarmt. Sie waren verhungert.
Das tat mir leid für meine Brüder, aber auch mir brannte etwas auf der Seele. Zu meiner Freude fand ich meine gepackte Schultasche mit den Büchern völlig unbeschadet. Ich sprach einen Dank aus, denn meine Gebete waren erhört worden. Ein Buch nach dem anderen nahm ich heraus und ließ den Blick über sie wandern. Mathe, Physik, Urdu, Englisch, Paschtu, Chemie, Biologie, Islamkunde und Landeskunde Pakistans. Ich würde endlich wieder in die Schule gehen können, ohne Angst haben zu müssen.
Dann setzte ich mich auf mein Bett. Ich war einfach überwältigt.
Wir hatten Glück, dass niemand in unser Haus eingebrochen war. Vier oder fünf der Häuser in unserer Straße waren geplündert worden. Man hatte Fernseher und Schmuck gestohlen. Safinas Mutter, die gleich nebenan wohnte, hatte ihr Gold extra zur Bank gebracht und es in den Safe einschließen lassen. Doch auch der war ausgeräumt worden.
Mein Vater machte sich natürlich Sorgen, was mit der Schule war. Also zogen wir beide los, um nachzusehen. Offensichtlich war das Gebäude neben der Mädchenschule von einer Rakete getroffen worden, die Schule selbst aber hatte allem Anschein nach nicht viel abbekommen. Aus irgendeinem Grund sperrten die Schlüssel meines Vaters nicht das Tor auf. Also baten wir einen Jungen, über die Mauer zu klettern und das Tor von innen zu öffnen. Wir eilten die Stufen hinauf, das Schlimmste erwartend.
»Irgendjemand war hier drin gewesen«, sagte mein Vater, sobald wir den Hof betraten. Überall lagen Zigarettenstummel und leere Lebensmittelpackungen herum. Die Stühle waren umgekippt, der ganze Hof war ein einziges Chaos. Mein Vater hatte das Schild mit der Aufschrift »Khushal-Schule« abgenommen und im Hof an die Mauer gelehnt. Ich nahm es von dort fort und schrie laut auf. Mehrere verwesende Ziegenköpfe lagen dahinter, vielleicht die Reste einer Mahlzeit.
Dann kamen wir zu den Klassenzimmern. Die Wände waren mit Parolen vollgeschmiert, die sich gegen die Taliban richteten. Jemand hatte mit einem Permanentmarker auf das Whiteboard geschrieben: »Army Zindabad! Lang lebe die Armee!« Nun wussten wir, wer sich hier breitgemacht hatte. Einer der Soldaten hatte kitschige Liebesgedichte ins Tagebuch einer meiner Klassenkameradinnen hineingekritzelt. Überall lagen Patronenhülsen herum. Die Soldaten hatten ein Loch in die Wand gehauen, durch das man die Straßen beobachten konnte. Möglicherweise hatten sie von hier aus sogar auf Leute geschossen. Ich war traurig, dass unsere wunderbare Schule zum Schlachtfeld verkommen war.
Während wir uns umsahen, hörten wir, wie unten jemand gegen die Tür hämmerte. »Nicht aufmachen, Malala!«, befahl mein Vater.
In seinem Büro hatte mein Vater einen Brief vorgefunden, den die Armee ihm hinterlassen hatte. Darin hieß es, Bürger wie wir seien schuld, dass die Taliban die Kontrolle über das Swat übernommen hätten. »Viele unserer Soldaten haben ihr kostbares Leben verloren, weil ihr so nachlässig wart. Lang lebe die pakistanische Armee!«, las mein Vater vor.
»Das ist doch wieder mal typisch!«, meinte er. »Wir hier im Swat haben uns anfangs von den Taliban verführen lassen, dann wurden wir von ihnen getötet, und am Ende schiebt man uns auch noch die Schuld zu. Verführt, getötet,
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