Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
auch das des Mädchens mit den verfilzten Haaren nicht, das den Müll sortierte. Wir hielten eine Konferenz mit 21 Mädchen ab und setzten uns als oberste Priorität die Schulbildung für jedes Mädchen im Swat, mit einem besonderen Fokus auf Straßenkinder und auf die Jungen und Mädchen, die Kinderarbeit leisten mussten.
Als wir einmal über den Malakand-Pass fuhren, sah ich ein junges Mädchen, das Orangen anbot. Mit einem Bleistift malte es für jede Orange, die es verkaufte, ein Zeichen auf ein Stück Papier. Das Mädchen konnte weder lesen noch schreiben. Ich machte ein Foto von der Orangenverkäuferin und schwor mir, alles Erdenkliche zu tun, um Mädchen wie diesem eine Schulbildung zu ermöglichen. Das war der Kampf, den ich führen würde.
18
Die Frau und das Meer
M eine Tante Najama war in Tränen aufgelöst. Sie hatte das Meer noch nie gesehen. Meine Familie und ich saßen auf Felsen, wir blickten übers Wasser, atmeten den Salzgeruch des Arabischen Meeres ein. Es war so unendlich weit. Wo hörte es auf? In diesem Augenblick war ich sehr glücklich. »Eines Tages will ich dieses Meer überqueren«, sagte ich.
»Was redet sie da?«, fragte meine Tante, als würde ich von etwas ganz Unmöglichem sprechen. Ich versuchte immer noch zu begreifen, dass sie 30 Jahre in Karachi an der Küste gelebt und kaum einen Blick auf den Ozean geworfen hatte. Ihr Mann ging nicht mit ihr an den Strand, und selbst wenn sie aus dem Haus geschlichen wäre, hätte sie den Wegweisern zum Meer nicht folgen können, weil sie nicht in der Lage gewesen wäre, sie zu lesen.
Ich saß auf einem Felsen und dachte daran, dass jenseits des Wassers Länder lagen, in denen die Frauen frei waren. In Pakistan hatten wir eine Premierministerin gehabt, und in Islamabad hatte ich diese beeindruckenden Frauen kennengelernt, die sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienten. Doch Tatsache bleibt, dass die meisten Frauen in unserem Land vollkommen von Männern abhängig sind. Meine Rektorin, Madam Maryam, war eine starke, gebildete Frau, aber in unserer Gesellschaft durfte sie nicht alleine leben und arbeiten. Es wurde von ihr verlangt, dass sie bei ihrem Mann, Bruder oder den Eltern wohnte.
Wenn Frauen in Pakistan erklären, sie wünschen sich Unabhängigkeit, meinen die Leute, wir würden unseren Vätern, Brüdern oder Ehemännern nicht mehr gehorchen wollen. Aber das bedeutet es nicht. Es bedeutet, wir wollen Entscheidungen für uns selbst treffen. Wir wollen selbst bestimmen, zur Schule oder zur Arbeit zu gehen. Im Koran steht nirgendwo, dass eine Frau von einem Mann abhängig sein soll. Der Himmel hat uns kein Wort darüber geschickt, dass jede Frau auf einen Mann zu hören hat.
»Du bist Millionen Kilometer weit weg, Jani«, unterbrach mein Vater meine Gedanken. »Wovon träumst du?«
»Bloß davon, dass ich Ozeane überqueren möchte, Aba«, antwortete ich.
»Vergiss das jetzt mal!«, rief mein Bruder Atal. »Wir sind am Strand, und ich will auf einem Kamel reiten!«
Es war im Januar 2012 , und wir waren als Gäste von Geo TV in Karachi, nachdem die Provinzregierung von Sindh uns mitgeteilt hatte, dass eine Mittelschule für Mädchen auf der Mission Road mir zu Ehren umbenannt werden sollte. Mein Bruder Khushal besuchte zu dieser Zeit eine Schule in Abbottabad, während ich zum ersten Mal in meinem Leben in einem Flugzeug saß. Der Flug dauerte nur zwei Stunden, was ich unglaublich fand. Mit dem Bus hätten wir mindestens zwei Tage gebraucht. Im Flieger beobachteten wir einige Leute, die ihre Plätze nicht fanden, weil sie weder Zahlen noch Buchstaben lesen konnte. Ich hatte einen Fensterplatz, und unter mir konnte ich die Wüsten und Berge unseres Landes sehen. Je weiter wir nach Süden kamen, desto ausgedörrter wurde es, und schon begann ich, das Grün des Swat zu vermissen. Jetzt verstand ich auch, warum die Leute, die nach Karachi gingen, um dort zu arbeiten, dennoch in der Kühle unseres Tals begraben werden wollen.
Auf der Fahrt vom Flughafen zu unserer Unterkunft staunte ich über die vielen Menschen, Gebäude und Autos. Karachi ist eine der größten Städte der Welt. Es war eine seltsame Vorstellung, dass es bei der Gründung Pakistans nur eine Ortschaft mit 30000 Einwohnern gewesen war. Jinnah lebte hier und machte sie zu unserer ersten Hauptstadt, und bald siedelten sich hier Millionen von Muhadschir an, muslimische Flüchtlinge aus Indien, die Urdu sprachen. Heute hat die Stadt um die 20 Millionen Einwohner. Und mit
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