Ich bin Nummer Vier
Schreie, Blut, Haufen brennender Leichen.
Sechs bricht den Bann, indem sie den Mogadori in die Luft hebt und gegen die Wand schleudert. Er versucht sich aufzurappeln, doch Sechs hebt ihn erneut; diesmal wirft sie ihn, so fest sie kann, erst an die eine Wand, dann an die andere. Der Scout fällt verdreht und gebrochen zu Boden, seine Brust hebt sich noch einmal, dann bleibt er reglos liegen. Eine oder zwei Sekunden vergehen, bevor der gesamte Körper zu einem Aschehäufchen zerfällt, dabei klingt es, als würde ein Sandsack umfallen.
»Was zum Teufel war das?«, frage ich, verblüfft, wie ein Köper sich so völlig auflösen kann.
Sechs kümmert sich nicht um meine Verwirrung. »Sieh ihnen nicht in die Augen!«, schreit sie.
Jetzt verstehe ich den Redakteur vonund was er durchgemacht haben muss, als er ihnen in die Augen geblickt hat. Ob er den Tod dann willkommen geheißenhat, nur um die Bilder loszuwerden, die ständig in seinem Kopf kreisten?
Zwei weitere Scouts kommen vom Ende des Gangs auf uns zu. Dunkelheit umhüllt sie, als würden sie alles um sich herum mit Schwärze vernichten. Sechs steht auf festen Beinen vor mir, das Kinn hochgereckt. Sie ist bestimmt fünf Zentimeter kleiner als ich, aber durch ihre Ausstrahlung wirkt sie mindestens einen Kopf größer. Sarah kauert hinter mir. Beide Mogadori, die Zähne höhnisch gefletscht, bleiben da stehen, wo die Gänge sich kreuzen. Sie atmen tief und keuchend – das war es, was wir vor der Tür gehört haben, ihr rasselnder Atem, nicht ihre Schritte. Sie beobachten uns. Dann ertönt ein neuer Lärm im Gang, dem sich die Mogadori zuwenden. An einer Tür wird gerüttelt, ein Schuss fällt, die Eingangstür der Schule wird aufgetreten. Die Mogadori wirken verblüfft, und als sie fliehen wollen, knallen zwei weitere Schüsse durch den Gang. Beide Scouts werden zurückgeschleudert. Zweierlei Schritte und Hundekrallen sind auf dem Linoleum zu hören. Neben mir spannt Sechs die Muskeln an, sie ist bereit für das, was uns entgegenkommt.
Henri! Es waren die Scheinwerfer seines Trucks, die wir gesehen haben. Er trägt ein doppelläufiges Gewehr, das ich noch nie zuvor gesehen habe. Bernie Kosar neben ihm rast auf mich zu. Ich hebe ihn hoch, er leckt heftig mein Gesicht und ich freue mich so sehr, ihn zu sehen, dass ich fast vergesse, Sechs zu erklären, wer der Mann mit dem Gewehr ist.
»Das ist Henri. Mein Cêpan.«
Henri kommt vorsichtig näher, mit einem aufmerksamen Blick in jedes Klassenzimmer, an dem er vorbeigeht. Hinter ihm folgt … Mark, den lorienischen Kasten unterm Arm. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum Henri ihn mitgebracht hat. In Henris Augen ist ein wilder Ausdruck, in ihm spiegeln sich Erschöpfung, Angst, Sorge. Ich fürchte das Schlimmste nachmeiner Flucht aus dem Haus, vielleicht eine heftige Auseinandersetzung, eine Ohrfeige – aber er schiebt das Gewehr in die linke Hand und umarmt mich, so fest er kann. Ich drücke ihn ebenso an mich. »Tut mir leid, Henri. Ich habe nicht gewusst, dass es so kommen würde.«
»Das ist mir klar. Ich bin einfach nur froh, dass du okay bist«, antwortet er. »Kommt, wir müssen weg von hier! Die ganze verdammte Schule ist umstellt.«
Sarah führt uns in den sichersten Raum, der ihr einfällt: die Hauswirtschaftsküche am Ende des Ganges. Die Tür schließen wir hinter uns ab. Sechs schiebt drei Kühlschränke davor, damit niemand hereinkommen kann, während Henri die Rollos vor den Fenstern herunterlässt. Sarah holt das größte Metzgermesser aus der Schublade, das sie finden kann. Mark nimmt sich ebenfalls ein Messer, dazu einen Hammer zum Fleischschlagen, den er sich in den Hosenbund steckt.
»Alles okay mit euch?«, fragt Henri.
»Ja«, sage ich.
»Bis auf den Dolch in meinem Arm, ja, geht es mir gut«, bestätigt Sechs.
Ich lasse meine Lichter gedämpft auf ihren Arm leuchten – sie macht keine Witze. Ein kleiner Dolch steckt zwischen Bizeps und Schulter. Deshalb hat sie so gestöhnt, bevor sie den Scout getötet hat. Er hat die Waffe nach ihr geworfen! Henri zieht den Dolch mit einer Bewegung aus ihrem Arm. Sie stöhnt wieder.
»Ein Glück, dass es nur ein Dolch ist«, sagt sie zu mir. »Ihre Fighter tragen Schwerter, die in einem anderen Glanz der Stärke erstrahlen.«
Bevor ich genauer fragen kann, was sie damit meint, mischt Henri sich ein. »Nimm das.« Er hält Mark das Gewehr hin, der es ohne Widerrede in die freie Hand nimmt. Wie viel hat Henri ihm wohl erzählt – und warum
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