Ich bin schizophren und es geht mir allen gut
in die Runde: "Ich les ja viel und guck viele Dokus und ich wollt mal von euch Freunden wissen, ob ihr Nazis für Menschen haltet?" "Was ist denn das für 'ne bescheuerte Frage?", verbalkackt dieser zufällige Kai in Richtung seiner Freundin. "Natürlich sind das Menschen, die haben einen Kopf, einen Körper und zwei Beine und zwei ..." "Nein", diese eine Beate wird etwas lauter, "ich rede nicht von Äußerlichkeiten. Denkt ihr, dass Nazidenken wirklich Denken ist, das sich Menschen ausgedacht haben? Ich komm da drauf, weil mich letztens eine Arbeitskollegin aufgeklärt hat, dass ihr Sohn ein Neonazi sei, und ich sie dann fragte, wie sie das erkannt habe, und sie daraufhin antwortete, er trüge Kleidung von Thor Steinar, und die wäre zwar sehr schick, aber eben ein Anzeichen für ein faschistoides Bewusstsein. Sie habe sich da informiert. Und auch in seinem CD-Archiv befinden sich Musikgruppen wie Störkraft, Endstufe, Stahlgewitter und so ein Liedermacher, der Frank Rennicke heißt. Und dann hat sie noch gesagt, dass sie und ihr Sohn sich derart entfremdet hätten, dass sie ihn kaum noch als Mensch wahrnehmen würde. Was haltet ihr davon?"
Die Frage steht da im Raum wie eine inkontinente Seniorin an einer Bushaltestelle, wo seit sieben Jahren kein Bus mehr gehalten hat. "Ach, komm", versucht dieser Zufalls-Jörg die Lage zu entspannen, "wir kennen doch alle die Verbrechen des Dritten Reichs und die Judenverfolgung, weswegen wir Jahre nicht auf unser Land stolz sein durften, weil wir das in der Schule so gelernt haben, dass wir ein Tätervolk sind und so, und das ist doch in unserer Generation gar nicht mehr wahr, oder?" "Ich glaube auch, dass wir uns als Deutsche einfach mal entspannen sollten", ergänzt dieser Kai, "diese ewige Verkrampftheit ist doch total entwicklungshemmend. Alle Länder sind doch stolz auf sich, zumindest ein bisschen. Ja, so Länder wie Simbabwe oder Burma vielleicht nicht, weil die sind ja Dritte Welt, da gibt es nix zum Stolzdraufsein, aber hier sollten wir uns echt mal zurücklehnen, weil wir wissen doch spätestens seit der WM 2006, dass wir definitiv kein Naziproblem haben hier in der BRD." "Haben wir eben doch", zickt diese Beate Richtung Freund, "was ich schon von Kindern im Kindergarten für krasse faschistische Ansätze zu hören bekomme, und so Söhne, wie der von meiner Arbeitskollegin, die sind ja auch keine totale Ausnahme ..."
"Das sind doch Kinder", kichert diese Sandy blöd, "die wissen doch gar nichts über Politik." Beate rollt mit den Augen, sie will ein ernsthaftes Gespräch. Vielleicht ist das nicht die Party für so was, möchte ich ihr zurufen, und deine Freunde haben einfach nicht das Bewusstsein für die Beschäftigung mit diesem Übel. "Ich wollt ja nur wissen, ob ihr Nazis für Menschen haltet", windet sich dann diese Beate verbalakrobatisch. "Also Jörg, was denkst du?" Direkt angesprochen zu werden ist für diesen einen Jörg immer noch ein Problem, gerade wenn er einfach keine Meinung dazu hat. "Ich glaube schon, dass man die Menschen nennen kann, sind halt eine sonderbare Randgruppe, aber immerhin Menschen." Diese Beate bedeutet eben Sandy, auch eine Äußerung abzulassen, und die spricht leise und gebrochen: "Ja, sind sie, weil sie Gehirne und Körper haben. Ich kenne viele Neonazis von zu Hause aus Chemnitz, die sind aber alle als Menschen super in Ordnung, obwohl ich deren politische Einstellung nicht teile. Aber wenn ich mit denen im Gespräch bin, dann lassen sie mich auch damit in Ruhe." "Und was denkst du, Kai?" Der angesprochene Kai überlegt, nimmt einen Schluck Wein, überlegt nochmal und sagt: "Es sind auf jeden Fall keine Außerirdischen."
Die Runde lacht und hat sich politisch geäußert. Die Frau und ich im Flur lachten nicht, sondern sorgten uns darüber, dass in der Mitte der Gesellschaft Menschen Stuhlgang gurgeln und dann ausspucken. Unsere Sorge ist berechtigt, denn aus der Mitte, aus der erhabenen Blödheit der okayen Bevölkerung entspringt ein kleiner Faschismus. Der ist zwar so klein, dass man ihn kaum sehen kann, und gern auch unsichtbar, weil getarnt als Wertvorstellung oder Toleranz, aber es gibt ihn, den kleinen Faschismus der okayen Leute, und er zeigt sein Gesicht überall, wo er toleriert wird.
Es wird Wein nachgeschenkt. Diese zufälligen Leute ziehen alle Register der Meinungsvermeidung. Und ich stehe im Flur und meine Begleitung verliert Gegenstände in meiner Hose. Mehr Kunst, mehr Anklage, mehr Liebe und vor allem nie
Weitere Kostenlose Bücher