Ich bin unschuldig
stellt seinen Teller hinein, zieht den Gürtel des Morgenmantels nach und verschwindet aus der Küche.
»Clive«, höre ich ihn sagen, und seine Stimme kommt wieder näher. »Ja … ja … okay. Ja.« Er ist wieder in der Küche. »Okay. Wir gehen es kurz durch.«
Ich befestige den Clip an der Brottüte und stecke es zurück in den Gefrierschrank, schiebe die Tiefkühlerbsen zur Seite, um Platz zu machen. Ich ziehe mir Martas Latexhandschuhe – »Höchster Tragekomfort« – über, um die Bratpfanne abzuwaschen.
Philip sucht meinen Blick. »Zwanzig Minuten«, sagt er stumm.
Ich nicke.
»Also, wer kriegt es noch zu sehen?« Er verlässt die Küche, doch er geht nicht nach unten. Die Tür zum Wohnzimmer geht auf und wieder zu.
Eine Weile lausche ich Philips Stimme, die lauter wird und leiser, als er im Wohnzimmer auf und ab geht, die mathematischen Berechnungen aussondert, die ihm so leichtfallen, die alles andere ersticken. Und als ich mir nach ein paar Minuten sicher bin, dass er sich ganz auf seine Rechnerei konzentriert, husche ich runter in den Keller.
Seine Schubladen sind fremdes Territorium. Aktendeckel mit Etiketten, die in seiner ordentlichen Handschrift mit »Steuer« und »Mehrwertsteuer« und »Dividenden« beschriftet sind. Ein Stapel Zeitungsausschnitte – Artikel über multinationale Konzerne. Stifte, Tacker, weiße Kabelschleifen mit stumpfen USB -Steckern am Ende, ein Gewirr aus Kopfhörern, Ersatzladegeräte. Plötzlich ein stechender Schmerz im Daumen: Ich habe mich an einer Tackerklammer gestochen.
Die unterste Schublade: Pässe, alte und neue, Führerscheine, ein Ordner für Fotonegative, eine Plastikhülle mit diversen Quittungen und Garantiescheinen. Die Bedienungsanleitungen vom Kühlschrank und von Philips Nikon, die er sich von seiner letzten Reise als »Geschenk« mitgebracht und kaum benutzt hat.
Während ich suche, denke ich über Philip nach und was für ein Mensch er ist, ein Mensch, der – im Gegensatz zu mir – achtsam mit seinen Besitztümern umgeht, sämtliche Unterlagen dazu abheftet und sie sicher aufbewahrt für den Fall, dass etwas kaputtgeht oder nicht passt, und der für den Fall eines Brands, einer Überschwemmung oder einer anderen Katastrophe sämtliche Garantiescheine aufhebt. Er ist umsichtig und akribisch, nicht wild und leidenschaftlich. Darüber denke ich nach, als mir ein kleiner weißer Zettel in die Finger gerät, der zwischen den Quittungen für die Krups Nespresso Titan und den 5-Brenner-Gasgrill von Weber steckt. Es ist ein langer, zusammengerollter Kassenzettel, ein Posten über dem anderen, vom letzten Dezember. Agent Provocateur .
Love . So heißt die Kollektion. Ein Love - BH und ein Love -Tanga, ein Love -Leibchen und ein Love -Slip. Am Ende dreht sich alles um Liebe.
Ich muss mich zwingen zu atmen. Manchmal ist ein Gefühl so intensiv und überwältigend, dass es einen völlig lähmt.
Ich werfe den Kassenzettel zurück in den Aktendeckel und schiebe diesen in die Schublade. In dem Augenblick, da ich ihn nicht mehr in der Hand halte, bin ich mir nicht mehr sicher. Die Unterwäsche, die er mir gekauft hat? Zum Geburtstag oder zu Weihnachten? Sie war von Myla , oder, aus dem Laden um die Ecke von seinem Büro? Er hat rasch in der Mittagspause dort vorbeigeschaut. Vielleicht sogar die Sekretärin geschickt. Oder irre ich mich? War sie von Agent Provocateur ? Ein Marsch durch die Stadt. Ein Liebesdienst. Vielleicht war es so. Kann ich alles wegerklären?
Ich habe die anderen Aktendeckel in die Schublade obendrauf gelegt und versuche jetzt, diese zu schließen, doch sie geht nicht ganz zu, hinten steckt etwas quer. Ich schiebe die Hand hinein, zwänge sie hinter die Schublade und ziehe sie wieder raus. Von meinen Fingern baumelt ein Goldkettchen. Es ist angelaufen, und der Verschluss ist kaputt – ich glaube, ich habe ihn kaputtgemacht. Ein kleiner runder Anhänger liegt in meinem Handteller. Ein flüchtiger Gedanke: Wie selten heutzutage. Ein Heiliger, der aus der Mode ist, der Heilige Christophorus, der seine kindliche Last schultert.
Ich atme ganz tief durch. Es ist eher ein Schaudern. Dann schließe ich mit übernatürlicher Ruhe die Schublade und stehe auf. Auf den Fußballen gehe ich leise durchs Zimmer und verharre am Fuß der Treppe. Seine Stimme kommt näher. Ist er auf dem Weg nach unten? Ich husche in den Fitnessraum. Überall stehen Geräte. Ich lausche angestrengt. Er ist weder auf der Treppe noch in der Nähe. Er ist umgekehrt.
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