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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anouk Markovits
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die Landschaft, die an ihnen vorbeizog, auf Häuserreihen und Minenschächte. Wieder einmal wurde ihnen schmerzlich bewusst, wie sehr sie sich auseinandergelebt hatten. Deaf Hill, Stony Heap … Warum eigentlich? Was war geschehen? Newton Aycliffe, Doncaster … Sie schwiegen.
    In London stiegen sie aus und wechselten vom Bahnhof King’s Cross zum Bahnhof Charing Cross, wo sie auf den Zug nach Dover warteten. Im überfüllten Wartebereich raschelten die Seiten von Zeitungen, die umgeblättert oder zusammengefaltet wurden.
    Eine Schlagzeile erregte Ataras Aufmerksamkeit:
    zionistischer regierungsbeamter erschossen
    Er kollaborierte mit Eichmann
    Die Tiraden des Rebbe über Zionisten kannte Atara nur zu gut, doch dies war eine säkulare Zeitung. Sie stupste Mila an. »Schau mal!«
    Atara ging zum Zeitungskiosk und betrachtete die Schwarz-Weiß-Fotographie unter der Zeile Er kollaborierte mit Eichmann: Viehwaggons mit offenen Türen, Menschen, die hinein- und hinauskletterten oder um die Waggons herumstanden, manche in chassidischer Kleidung.
    Sie suchte die Münzen im Portemonnaie zusammen und schaute nach rechts und links, um sicherzugehen, dass niemand aus der Welt ihres Vaters oder der Seminarschule sie beobachtete.
    »Kaufst du eine gojische Zeitung?«, fragte Mila erschrocken. Sie packte ihren schweren Koffer und zog ihn hinter sich her zum Zug, der gerade in den Bahnhof einfuhr. »Wenn du die liest, werde ich mich nicht neben dich setzen«, sagte sie, als Atara sie eingeholt hatte.
    Atara zerrte ihren Koffer durch den schmalen Mittelgang des Waggons, bedankte sich bei dem Mann, der ihr half, ihn in die Gepäckablage zu hieven, und setzte sich. Noch einmal betrachtete sie das Foto.
    Der Kasztnerzug, Budapest, 30. Juni 1944, lautete die Bildunterschrift.
    Sie begann zu lesen. Ein Mann namens Rezsö Kasztner, der Agent der zionistischen Rettungsmission in Ungarn gewesen war, wurde der Kollaboration beschuldigt. In Israel hatte es einen langen Prozess gegeben, bei dem widersprüchliche Sichtweisen des Falls zutage kamen. Kasztner selbst betrachtete sich als Helden, der im von den Nazis besetzten Budapest mutig und kaltblütig mit Eichmann verhandelt hatte, um so viele Menschenleben wie möglich zu retten. Das Gericht kam jedoch zu dem Urteil, Kasztner habe die sichere Abreise einiger weniger nur erreicht, weil er sich im Gegenzug bereit erklärt hatte, den anderen Juden den Widerstand gegen die Deportationen auszureden.
    Zeugen, die ihre Familien in Auschwitz verloren hatten, sagten aus, Kasztners Leute hätten gefälschte Postkarten aus Kenyérmezö, der ungarischen Kornkammer, in Umlauf gebracht: Wir haben uns umsiedeln lassen. Hier gibt es Lebensmittel, Arbeit … Die Menschen, die von den Karten hörten, dachten: Warum sollen wir fliehen und unser Leben riskieren? Sie stiegen in die Viehwaggons.
    Andere wiederum sagten aus, Kasztner habe zionistische Pioniere, die Halutzim, entsandt, um die ungarischen Gemeinden zu warnen, doch die Leute hätten nicht auf sie gehört. Eine Frau erinnerte sich, dass in der Stadt Szatmár der Rebbe Joel Teitelbaum damit gedroht hatte, jeden jungen Zionisten, der seine Gemeinde zu warnen versuchte, zu exkommunizieren.
    Atara hielt inne. Es war seltsam, den Namen des Rebbe in einer säkularen Zeitung, einer großen nationalen Tageszeitung zu lesen. Wieder starrte sie auf das Foto, und plötzlich ging ihr auf, woher sie das Bild kannte: Es war die Traumszene, die Mila ihr so oft geschildert hatte.
    Offene Viehwaggons, in denen Juden saßen.
    Atara sprang auf. Sie musste Mila sofort sagen, dass sie die Wahrheit über den Tod ihrer Mutter erzählte: Im Frühjahr 1944 hatte es in Ungarn tatsächlich einen Zug mit offenen Viehwaggons gegeben. Sie blieb stehen. In der Bildunterschrift wurde Budapest erwähnt, doch Milas Eltern waren aus Kolozsvár vor der Deportation geflohen. Und der Rebbe hatte in Szatmár gelebt. Sie brauchte noch mehr Informationen, bevor sie an Milas Erinnerungen rührte, sie musste sicher sein und die genaue Route des Zugs und den Tag seiner Abfahrt in Erfahrung bringen, sie brauchte eine Liste mit den Namen der Passagiere …
    In Dover las Atara auf einem Zeitungskarren weitere Schlagzeilen.
    kasztners zustand kritisch
    die kasztneraffäre
    Sie rannte los und kaufte noch zwei Zeitungen. Auch in ihnen wurde der Satmarer Rebbe erwähnt. Von den Prominenten, die von Kasztner gerettet worden waren, hatte sich während des achtzehnmonatigen Gerichtsverfahrens nicht

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