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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anouk Markovits
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Kolozsvár herauskam …«
    »Kolozsvár?« Milas Stimme zitterte, als sie den Namen ihrer Heimatstadt aussprach. »Aber der Rebbe hat in Szatmár gelebt, nicht in Kolozsvár.«
    Atara erzählte Mila, was sie über die Flucht des Rebbe gelesen hatte: Der Rebbe sei heimlich spätnachts aus Szatmár geflohen, aber noch vor der rumänischen Grenze geschnappt worden. Man habe ihn ins Ghetto von Kolozsvár gebracht, wo er von dem Prominentenzug der Zionisten erfuhr.
    »Der Rebbe hätte niemals mit einem Zionisten verhandelt«, erklärte Mila im Brustton der Überzeugung. »Außerdem ist der Rebbe deportiert worden.«
    »Ist er nicht .«
    »Nach Bergen-Belsen.«
    »Hast du jemals von normalen jüdischen Deportierten gehört, die während des Kriegs von Bergen-Belsen in die Schweiz reisen konnten? Der Rebbe hat fünf Monate in Bergen-Belsen gesessen, weil sich Kasztners Verhandlungen so schwierig gestalteten, doch alle Juden in Kasztners Zug waren Austauschjuden. Und deshalb hatten sie genügend zu essen und mussten nicht arbeiten. Die Familien wurden nicht getrennt. Selbst neugeborene Babys haben überlebt, und die Alten. Der Rebbe ist nicht deportiert worden.«
    »Nach Bergen-Belsen …«, beharrte Mila kaum hörbar. »Und dieser Sonderzug soll beim Versteck meiner Eltern angehalten haben?«
    »Ich weiß nicht, warum der Zug dort angehalten hat, aber es ist, wie du immer gesagt hast: Du hast den Rebbe gesehen.«
    »Und wenn es gar nicht stimmt? Wenn ich einfach nur geglaubt habe, dass es der Rebbe ist, und er war es in Wirklichkeit gar nicht?«
    »Deine Mutter hat ihn gesehen. Du hast gesagt, dass sie ›Rebbe‹ gerufen hat, als sie nach draußen gelaufen ist.«
    Die tragischen Ereignisse kehrten zurück, und Mila sackte unter der Last der Erinnerungen zusammen. Sie schloss die Augen. »Aber wenn der Rebbe den Zug vor unserem Versteck anhalten lassen konnte, warum konnte er uns dann nicht retten?«, flüsterte sie, als sei der Zweifel unaussprechlich.
    Atara brachte es nicht übers Herz, Mila zu sagen, dass der Rebbe längst beschlossen hatte, ihre Familie zurückzulassen, als er in Kasztners Zug stieg. »Du hast gesagt, auch die anderen Züge seien in der Kurve langsamer gefahren. Der Zug hat nicht auf Befehl des Rebbe gehalten.«
    »Aber warum ist meine Mutter nach draußen gelaufen? Wollte sie ihn retten, oder hat sie gehofft, dass er uns rettet?«
    »Wahrscheinlich hat sie gehofft … Deine Eltern müssen vom Kasztnerzug gewusst haben, alle im Ghetto haben davon gewusst, und alle haben versucht …« Atara unterbrach sich. Typisch Atara, würde Mila nur denken, wenn sie die Einzelheiten der Flucht des Rebbe von ihr erfuhr. Typisch Atara, die wieder alles in Frage stellen musste. Besser war es, Mila direkt mit den neuen Erkenntnissen zu konfrontieren. Atara bremste sich, hielt die Fakten zurück und auch ihre Gefühle. Stattdessen bündelte sie alles zu einem ungeheuerlichen Vorschlag: »Mila, es gibt Landkarten und Zugfahrpläne. Und es gibt Zeugenaussagen. Wir können alles über den Kasztnerzug und die Flucht des Rebbe herausfinden. Alle Einzelheiten: an welchem Tag der Zug in Kolozsvár abfuhr, wie der genaue Streckenverlauf aussah und sogar, wie viel die Leute im Kasztnerzug über das Schicksal der restlichen Gemeinde wussten. Mila, kommst du mit mir in die Bibliothek?«
    »Die Bibliothek? «
    »Um herauszufinden, was geschehen ist. Was in deinem Leben geschehen ist.«
    Mila schwieg, aber sie sagte auch nicht nein.
    Der Plan eines gemeinsamen Bibliotheksbesuchs schweißte die Mädchen zusammen. Atara fühlte sich ermutigt und holte noch am Abend ihrer Ankunft in Paris das winzige Transistorradio heraus, das sie im obersten Fach des Kleiderschranks aufbewahrte. Im letzten Schuljahr am Lyzeum hatte sie es einer Klassenkameradin abgehandelt. Die Haare der Mädchen verflochten sich auf dem Kissen, als sie die Ohren an den knisternden Lautsprecher pressten, um die neusten Nachrichten über die Kasztneraffäre zu hören. Kasztners Zustand hatte sich verschlechtert. Atara und Mila stellten sich den sterbenden Mann vor. Hatte er als Jude wirklich mit den Nazis kollaboriert? War der Rebbe in einen von Zionisten ausgehandelten Sonderzug gestiegen? Beides war für sie unvorstellbar.
    Nach den Nachrichten schalteten die Mädchen das Radio nicht aus. Sie hörten französische Chansons, und bald schwelgten sie in den Melodien, die bei Juden und Nichtjuden dasselbe Sehnen auslösten: Junge und Mädchen, die Hand in Hand liefen

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