Ich bleib so scheiße, wie ich bin
weniger Kritik und Häme über sich ergehen lassen, wenn man die gängigen Normen für sich ablehnt und offen über die Gründe dafür spricht. Beth Ditto, die Frontfrau der Band The Gossip wiegt mit ihren 1,57 Metern über hundert Kilogramm, rasiert sich nicht und quetscht sich trotz ihres Körperumfangs in hautenge Outfits. In den Medien wird sie als neues Sexsymbol bezeichnet.
Am Anfang ihrer Karriere erhielt die Sängerin Lady Gaga zahlreiche Absagen von großen Plattenlabeln, oder man löste ihren Vertrag nach kurzer Zeit wieder auf. Beim Plattenlabel Interscope befürchtete man, dass Lady Gaga für eine Popkarriere nicht hübsch genug sei. Dieter Bohlen bezeichnete sie gar als kleines Mädchen mit dicken Beinen. Mit großer Beharrlichkeit und viel Kalkül stilisierte sie sich zur Kunstfigur und machte in dieser Gestalt eine Weltkarriere. Fünf Grammy Awards gewann sie in nur zwei Jahren. Was kümmert es eine Stilikone wie Lady Gaga nach 87 Millionen verkauften Tonträgern, was ein alternder Schlagersänger über ihre Beine denkt?
Als Karl Lagerfeld die Sängerin Adele in einem Interview als »zu fett« bezeichnete, ging ein Aufschrei durch die Medien. Karl Lagerfeld musste seine Kritik zurücknehmen, er hatte wohl nicht mit dem Engagement der Fans von Adele gerechnet, die schließlich nicht nur ihr Idol verteidigten, sondern auch ihre eigene Freiheit, sich nicht den herrschenden Schönheitsnormen unterwerfen zu müssen.
Aber auch derjenige, der die Normen ablehnt, ist zum Erfolg verpflichtet. Ohne Ruhm und Aufmerksamkeit ist es sehr schwer, sich an seiner Andersartigkeit zu erfreuen. Von den finanziellen Nachteilen gar nicht erst zu reden.
Ich glaube nicht, dass man heute noch das
Gefühl haben kann, ein Individuum zu sein,
ohne gleichzeitig Außenseiter zu sein.
Es gibt allerdings eine Voraussetzung:
Man muss ein erfolgreicher Außenseiter
sein. Die Rechnung muss aufgehen.
Tut sie es nicht, ist man kein Individuum,
sondern ein Verlierer.
Wilhelm Genazino
----
EIN HOCH AUF DEN DILETTANTISMUS
Für manche ist gerade das der Reiz an der Sache, manche nehmen es notgedrungen in Kauf: Wer hoch hinaus will, geht ein großes Risiko ein. Es ist äußerst unsicher, ob der Einsatz und die Anstrengungen zum gewünschten Ergebnis führen. Zu jeder Karriere gehören ja nicht nur Talent und Durchhaltevermögen, sondern auch Glück und Gelegenheiten entscheiden darüber, ob man Gewinner oder Verlierer sein wird.
Jahrelang spielt man Tennis oder Fußball, probt, übt, lernt am Abend nach der Arbeit, verzichtet auf Freizeit und Schlaf. Riskiert seine Gesundheit und seine Freundschaften, tanzt umsonst, singt umsonst und hält umsonst Vorträge. All das, weil man hofft, irgendwann für seine Leistungen bezahlt zu werden. Das alles tut man für den Erfolg; die Alternativen, wenn es nicht so klappt, wie man es sich vorgestellt hat, sind in der Regel inakzeptabel.
Man wird entweder Tennisstar oder Tennislehrer. Man tanzt im weltweit gefeierten Ensemble, oder man kann sich mit Gymnastikkursen sein Brot verdienen. Man erreicht ein politisches Amt oder muss wieder in seinen Beruf zurückkehren. Ich werde eine gefeierte Bestsellerautorin, oder ich gebe wieder Kurse für kreatives Schreiben in der Volkshochschule. Freie Journalisten leben auf Hartz-IV-Niveau und hoffen auf den großen Durchbruch. Künstler fahren Taxi und kellnern bis ins hohe Alter hinein. Sehr gute Pianisten halten sich mit Klavierunterricht über Wasser, weil sie nicht zu den fünfhundert Besten der Welt gehören.
In einer Gesellschaft, in der theoretisch jeder die Möglichkeit hat, seine Talente zu entfalten (und in der es kein bedingungsloses Grundeinkommen gibt), kann man sich genauso wenig verwirklichen wie in einer Gesellschaft, in der dieses Privileg nur den oberen Zehntausend vorbehalten ist. Viele Menschen sind gut ausgebildet und wollen ihre Chancen nutzen. Um vor der wachsenden Konkurrenz zu bestehen, ist man gezwungen, sich früh zu überlegen, auf welche Karte man setzen möchte. Denn man kann sein Metier nicht beliebig oft wechseln, das würde der Konkurrenz in diesem Wettrennen nur unnötigen Vorsprung verschaffen.
Das ist aber so ziemlich das Gegenteil von Selbstverwirklichung: Sich selbst zu verwirklichen, würde voraussetzen, die Freiheit zu haben, sich auszuprobieren. Freiheit, um in Ruhe herauszufinden, was einem liegt und in welcher Dosis. Frei zu sein bedeutet, dass man sich umentscheiden darf, so oft man möchte. Dass man sich Illusionen
Weitere Kostenlose Bücher