Ich bleib so scheiße, wie ich bin
hingeben kann, um anschließend geläutert etwas Neues anzufangen. Selbstverwirklichung ist mehr, als tun zu dürfen, was einem Spaß macht. Denn was einem gestern Spaß gemacht hat, kann einen heute bereits nicht mehr reizen. Die wirkliche Möglichkeit zur Selbstverwirklichung würde bedeuten, dass wir uns alle ein Leben lang ausprobieren dürfen, also heute tanzen, morgen ein Unternehmen leiten und übermorgen Gemüse anbauen.
In einer Gesellschaft, in der es auf Höchstleistungen ankommt, kann man sich aber nicht beliebig lange selbst finden. Da muss man sich, wenn etwas aus einem werden soll, jahrelang jeden Tag mit einer einzigen Sache beschäftigen, ob es einem Freude macht oder nicht.
VIEL ERLEBEN ODER VIEL ERREICHEN
Eine hohe gesellschaftliche Position innezuhaben, stellt man sich herrlich vor: Man wird zu Talkshows eingeladen und um seine Einschätzung gebeten, die eigenen Ideen werden von maßgeblichen Persönlichkeiten aufgegriffen und diskutiert. Schon am frühen Morgen klingelt das Telefon, und wildfremde Menschen wollen wissen, wie es einem geht. Die Öffentlichkeit nimmt Anteil an den Erfolgen, man hat Bewunderer und zahlreiche Freunde, man reist viel und nutzt seinen Einfluss – entweder, um Gutes zu tun, oder, um seinen Reichtum zu mehren.
Eine Karriere gehört zu einem erfüllten und reichen Leben dazu, ja, sie gilt sogar als Inbegriff eines ausgefüllten Lebens.
Diese Vorstellung kollidiert mit einem anderen Bild, welches in den Medien von einem erfüllten Leben verbreitet wird: In der Jugend voller Partys, interessanter Reisen und leidenschaftlicher Liebesaffären, lässt man es sich mit anderen jungen Menschen gut gehen, etwa wie in der Bacardi-Werbung. Später, wenn man älter ist, ist das Leben nicht weniger abwechslungsreich. Mit lässiger Souveränität bewegt man sich durch die Welt, ist geübt im Umgang mit Angehörigen fremder Nationen, spricht mehrere Sprachen, beherrscht mehrere Sportarten und seinen Körper, und natürlich weiß man als urbaner Weltbürger, was in der internationalen Musikszene so läuft und welche Architektur gerade angesagt ist. Seine Freunde bekocht man mit raffinierten, selbst erfundenen Gerichten, und auch die eigene Familie wird nicht vernachlässigt. Die Karriere ist in solch einem Leben, angefüllt mit Highlights und Sensationen, Nebensache.
Da zum Erreichen einer guten Position viel Selbstdisziplin und Verzicht notwendig sind, liegt es auf der Hand, dass sich beide Bilder nicht in Einklang bringen lassen. Fragt man Menschen, die einen erfolgreichen beruflichen Werdegang hinter sich haben, was sie gerne anders gemacht hätten, erhält man stets ähnliche Antworten. So bedauerte der Unternehmer Arend Oetker, dass er sich immer zu wenig Zeit für Freunde genommen habe. Er bezeichnete dies als den größten Fehler seines Lebens. Auf die Frage, welchen völlig überflüssigen Luxus er sich denn gönnen würde, sagte er, dass er davon träume, in Muße die Natur zu erleben, also zum Beispiel im Garten seines Elternhauses zu beobachten, wie sich die Bäume im Badeteich spiegeln.
KARRIERE ALS ACCESSOIRE
Eine Karriere zu machen, hat, wie gesagt, wenig mit Abwechslung zu tun. Da aber Abwechslung das Gebot der Stunde ist, gibt es nur eine Möglichkeit – werden Sie Schauspieler! Schauspieler ist der Beruf unserer Zeit.
Als Schauspieler kann man heute Arzt und morgen ein Starkoch sein, ohne es tatsächlich werden zu müssen. Schauspieler zu sein, befreit einen von der Tyrannei der Möglichkeiten. Man kann sich Berufe wie Architekt, Mathematiker oder Widerstandskämpferin aneignen, so wie man sich eine neue Frisur oder ein neues Kleid zulegt – und erhält mehr Anerkennung, als wenn man tatsächlich Architekt, Mathematiker oder Widerstandskämpferin wäre. Man kann ausprobieren, wie es sich anfühlt, eine Bank zu überfallen oder 500 Menschen das Leben zu retten. Es kann auch nichts schiefgehen, wenn man das zweite Mal durchs Staatsexamen fällt oder sein Hab und Gut im Spielcasino verspielt; und wird man erschossen, steht man anschließend wieder auf.
Als ihre dreizehnjährige Tochter sich weigerte, mehr als drei Stunden täglich Geige zu üben, erhöhte Amy Chua den Druck. Als ihre Tochter sie mit Geschirr bewarf und sie anschrie, dass sie sowohl die Geige als auch sie hasse, hatte die Yale-Professorin ein Einsehen. Ihr war klar, dass sie ihre Tochter bei solch einem massiven Widerstand niemals zu einer Geigenvirtuosin machen kann. Also erlaubte sie ihr,
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