Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
suchte. Ich fragte mich, was er wohl dachte – ehe wir seine Praxis verließen, hatte er mich um meine Einwilligung gebeten, meinen Fall auf einer Tagung vorzustellen, zu der er eingeladen war. »In Genf«, sagte er und konnte dabei einen Anflug von Stolz nicht verbergen. Ich gestattete es ihm, und ich stellte mir vor, dass er mich bald fragen würde, ob er mein Tagebuch fotokopieren dürfe.
Zu Forschungszwecken.
Als wir bei mir zu Hause ankamen, verabschiedete er sich und fügte dann hinzu: »Ich bin erstaunt, dass Sie schon im Auto weitergeschrieben haben. Sie wirken sehr … entschlossen. Vermutlich wollen Sie nichts auslassen.«
Ich weiß, was er eigentlich meinte. Er meinte fanatisch. Verzweifelt. Von dem verzweifelten Drang beherrscht, alles zu Papier zu bringen.
Und er hat recht. Ich bin entschlossen. Kaum war ich im Haus, schrieb ich den Eintrag am Esstisch zu Ende, klappte das Tagebuch zu und legte es wieder in sein Versteck, ehe ich mich langsam auszog. Ben hatte mir eine Nachricht auf dem Telefon hinterlassen.
Lass uns heute Abend ausgehen
, hatte er gesagt.
Irgendwo schön essen. Es ist Freitag …
Ich zog die marineblaue Leinenhose aus, die ich am Morgen im Kleiderschrank entdeckt hatte. Ich streifte die blassblaue Bluse ab, die ich ausgesucht hatte, weil sie farblich am besten dazu passte. Ich war verunsichert. Ich hatte Dr. Nash während unserer Sitzung mein Tagebuch gegeben – er hatte gefragt, ob er es lesen dürfe, und ich hatte es ihm erlaubt. Das war, bevor er seine Einladung nach Genf erwähnte, und jetzt überlege ich, ob er deshalb danach gefragt hat. »Das ist ausgezeichnet!«, hatte er gesagt, als er fertig war. »Wirklich gut. Sie erinnern sich an eine ganze Menge, Christine. Es kommen etliche Erinnerungen wieder. Ich sehe keinen Grund, warum das nicht so weitergehen sollte. Das sollte Sie wirklich ermutigen …«
Aber ich fühlte mich nicht ermutigt. Ich fühlte mich durcheinander. Hatte ich mit ihm geflirtet oder er mit mir? Er hatte seine Hand auf meine gelegt, aber ich hatte es zugelassen, meine Hand nicht weggenommen. »Sie sollten das Tagebuch unbedingt weiterführen«, sagte er, als er es mir zurückgab, und ich versprach, dass ich das tun würde.
Jetzt, im Schlafzimmer, versuchte ich, mir einzureden, dass ich nichts Falsches getan hatte. Ich hatte noch immer ein schlechtes Gewissen. Weil ich es genossen hatte. Die Zuwendung, das Gefühl von Nähe. Für einen kurzen Moment hatte ich trotz allem, was vor sich ging, so etwas wie einen Funken Freude empfunden. Ich hatte mich attraktiv gefühlt. Begehrenswert.
Ich ging zu der Schublade mit der Unterwäsche. Dort, ganz hinten versteckt, fand ich einen schwarzen Seidenslip und einen dazu passenden BH . Ich zog beides an – diese Sachen, von denen ich weiß, dass sie mir gehören müssen, auch wenn ich nicht das Gefühl habe – und dachte dabei die ganze Zeit an mein Tagebuch im Kleiderschrank. Was würde Ben denken, wenn er es fände? Wenn er alles lesen würde, was ich geschrieben hatte, alles, was ich empfunden hatte? Würde er es verstehen?
Ich trat vor den Spiegel. Er würde es verstehen, sagte ich mir. Ich erkundete meinen Körper mit Augen und Händen. Ich erforschte ihn, fuhr mit den Fingern über seine Konturen und Rundungen, als wäre er etwas ganz Neues, ein Geschenk. Etwas, das ich von Grund auf kennenlernen musste.
Ich wusste zwar, dass Dr. Nash nicht mit mir geflirtet hatte, doch in der kurzen Zeitspanne, in der ich das gedacht hatte, hatte ich mich nicht alt gefühlt. Sondern lebendig.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand. Für mich ist das Verstreichen der Zeit fast bedeutungslos. Jahre sind an mir vorbeigegangen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Minuten existieren nicht. Allein das Schlagen der Uhr unten auf dem Kaminsims ist für mich ein Zeichen dafür, dass überhaupt Zeit vergeht. Ich betrachtete meinen Körper, die Schwere meiner Pobacken und Hüften, die dunklen Haare an den Beinen, unter den Armen. Ich fand einen Rasierer im Bad und seifte mir die Beine ein, zog dann die kalte Klinge über die Haut. Ich musste das schon einmal gemacht haben, dachte ich, vermutlich zahllose Male, dennoch kam es mir seltsam vor, leicht albern. Ich schnitt mich an der Wade – ein kleiner Schmerzstich, und dann quoll es glänzend rot hervor, der Blutstropfen zitterte, ehe er am Bein hinunterrann. Ich wischte ihn mit einem Finger weg, verschmierte das Blut wie Sirup, hob es an die Lippen. Der Geschmack von
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